Mit der aktuellen Arbeit „Change was our only Chance“, ab 29. Mai in Wien zu sehen, möchte Time’s up die Angst vor der Zukunft in eine Lust auf die Zukunft verwandeln. Ein anderes wichtiges Projekt wird im Juni und Juli im Rahmen des diesjährigen Festivals der Regionen verwirklicht – die „Wärmegreißlerei 1.0“. Georg Wilbertz reflektiert den größeren Kontext der Linzer Initiative am Hafen.
Als Kunsthistoriker mag man Bücher. Als der Wunsch, über aktuelle Projekte von Time’s Up zu schreiben, an mich herangetragen wurde, erinnerte ich mich, dass es da doch etwas gab. Eine opulente, text- und bildreiche „Festschrift“ zum 20-jährigen Bestehen des Künstlerkollektivs (schon dieser Begriff trifft nur einen Teil der Wahrheit), die ich schon häufiger durchgeblättert hatte, ohne sie wirklich zu lesen (Kunsthistoriker blättern gern). Nun stand das systematische, methodische, zielgerichtete Lesen an und noch vor dem ersten Aufschlagen legte ich mir das inhaltlich-terminologische Rüstzeug zurecht, das mich durch das Buch leiten sollte. Ehrlich gesagt sucht man auch im Neuen meist das, was man schon weiß oder ahnt. Meine Ahnung folgte naheliegenden Bahnen, Spuren und Wegen. Es würde, so hoffte ich, im Buch um Inszenatorisches gehen, um Performatives, Szenisches, um einen offenen Kunstbegriff, um Räume, öffentliche Räume, atmosphärische Räume. Um das Verhandeln des Sozialen, Politischen, Kulturellen. Vielleicht den gesellschaftlichen Diskurs mit Mitteln der Kunst. Im Idealfall wohlgeordnet und effektiv verarbeitbar. Sicher, all dies steckt in der Publikation, die unter dem Titel „L CKENHAFT & KRYPTISCH“ (man hätte gewarnt sein können) 2016 erschienen ist. Allerdings sperrt sich das Buch gegen einen allzu leichten, systematischen Zugang, der einem ein rasches, unkompliziertes Bild der Arbeit von Time’s up vermitteln könnte. Es ist eher ein Such- und Wimmelbuch voller Projekte, Bilder, Szenen und unterschiedlichen Textbeiträgen einer kaum zu überblickenden Zahl von AutorInnen. Und damit ist es auf ideale Weise wohl genau das, was es sein soll: ein repräsentativer Einblick in das Wesen und die Arbeit von Time’s up. Ein hoher Grad an Komplexität wird deutlich. Vieles ist netzwerkartig miteinander verwoben, durchdringt sich thematisch, räumlich, zeitlich und personell. Die Spanne reicht von Diskurs- und Theorieformaten bis zu aufwendigst realisierten räumlichen Installationen und Inszenierungen, die ein immersives Eintauchen der BesucherInnen ermöglichen.
Im Zentrum der Arbeit von Time’s up stehen umfassende räumliche Inszenierungen, für die die üblichen Charakterisierungen wie Installation oder Bühnenbild trotz erheblicher Schnittmengen zu kurz greifen. Mit analogen, handwerklichen und vom Material her handfesten Mitteln werden künstl(er)ische „Wirklichkeiten“ geschaffen, die bis ins Detail hinein funktionieren müssen. Ziel ist die Schaffung von räumlich-inszenatorischer Authentizität, die die Voraussetzung für ein authentisches Wahrnehmen und Erleben durch die BesucherInnen darstellt. Viele BesucherInnen „überprüfen“ gerne auch kleinste Elemente der Inszenierung, um sich der Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit des Dargebotenen zu versichern. Es entstehen „begehbare Erzählungen“, deren räumlich-materielle Konsistenz eine fast widersprüchliche Wirkung erzielen. Die BesucherInnen wissen, dass sie sich in einem inszenierten Rahmen bewegen, trotzdem ermöglicht dieser eine unmittelbar sinnlich-physische Verbindung von Körper und Raum. Der heikle, kaum greifbare Begriff der Atmosphäre tut sein Übriges.
Den aktuellen Diskurs zum Begriff der Immersion und ihrer Wirkung dominiert, wie sollte es anders sein, vor allem die Schaffung komplexer digital-virtueller Welten. Die Arbeiten von Time’s up distanzieren sich bewusst, fast nostalgisch und anachronistisch von den schier unendlich scheinenden Potentialen des Digitalen. Begründet ist dies nicht nur durch die Lust am Material, am Handwerk, am Spiel mit Gegenständen und Objekten, am Schweißen, Schrauben und Dengeln. Am Ende langwieriger Prozesse stehen Inszenierungen, die auf das Mittel der technisch-medialen Vermittlung zwischen Bild (Raum) und Rezeption durch die Sinne und Körper der BesucherInnen verzichten können. Jede Form der technisch-medialen Vermittlung stellt, egal wie überzeugend, wie virtuos sie gestaltet ist, eine Wahrnehmungsgrenze dar. Wie „perfekt“ aktuelle und zukünftige digital-immersive Tools auch sein werden: die einfache, schlichte, fast banale aber dennoch in ihrer Komplexität kaum „nachbaubare“ physisch-emotionale Präsenz des Körpers im Raum ist medial nur in engen Grenzen realisierbar.
Trotzdem ließe sich natürlich provokant fragen, wozu der ganze Aufwand. Ohne den Bogen überspannen zu wollen: Inszenierungen im physisch real vorhandenen und erlebbaren Raum stellen in Zeiten von Fakefetischismus und ideologisch transzendentierter Wirklichkeitsverweigerung schon fast ein politisch-gesellschaftliches Statement sui generis dar. Die Wirkungsabsicht und das Wirkungspotential der Time’s up-Inszenierungen schaffen etwas, das aus naheliegenden Gründen des gesellschaftlichen Missbrauchs eines sich verflüchtigenden Wirklichkeitsbegriffs zunehmend negiert wird (Nebenbei bemerkt: Wirklichkeit lässt sich nicht verflüchtigen, sondern „nur“ durch die destruktiven Mythen negativer Ideologien sinnloserweise in Frage stellen). Es handelt sich um den überprüfbaren, existenziell relevanten Raum, der nicht nur ein euklidisches Faktum umreißt, sondern auch reale Hülle für alles Soziale ist. Die früher zwar komplexe, aber selbstverständliche Überprüfbarkeit dieses Raums wird als zunehmend obsolet erachtet. Das Beharren auf die Existenz des sozialen Raums und der in ihm herrschenden Regeln, Vereinbarungen und Diskurse ist inzwischen erstaunlicherweise zu einer Frage von Ethik, Moral, Politik und Gesellschaft geworden.
Wenn also Time’s up die analoge, physisch erlebbare Inszenierung und Gestaltung „begehbarer Erzählungen“ real werden lässt, steckt darin eine deutliche gesellschaftliche Botschaft. Eine Botschaft, die – auch hier bleibt man analog – vom Kollektiv am maßstäblichen Modell verhandelt und durchgespielt wird, bis die Inszenierung steht. Überhaupt das Spielen, aber das ist ein anderes Thema …
Wozu nutzt Time’s up all dies. Mehr und mehr wurde in den letzten Jahren das Thema der Zukunft in den Fokus genommen. Es steht jedoch nicht DIE eine Zukunft im Mittelpunkt, sondern aufgrund der komplexen Gegenwart und Ausgangslage werden in den Arbeiten und Diskursen meist mehrere Zukünfte verhandelt und angeboten. Auf diese Weise gelingt es Time’s up, den Zeitstrahl postmoderner Differenziertheit, bei dem heterogene Vergangenheiten in eine vielfältige (manche behaupten „beliebige“) Gegenwart führen über diese hinaus zu erweitern und in die Zukunft zu spiegeln. Für die Gegenwart werden teils bedrohliche und beängstigende gesellschaftlich-politische Zustände und Symptome konstatiert. Die Zukünfte tragen daher latent das Potential der Gefährdung und Gewalt in sich. Jedoch geht es Time’s up auch immer darum, Ängste abzubauen und den Zustand gesellschaftlicher Paralyse zu vermeiden. Dies zum Glück nicht im Sinne einer umfassenden Utopie, sondern in der spielerisch-forschenden Akzeptanz des Offenen, Unterschiedlichen und Widersprüchlichen.
Die Komplexität und Offenheit ihres Zeitbegriffs und realen Zugangs zu Fragen der Gegenwart und Zukunft manifestiert sich auch im Time’s up-Gebäude am Linzer Hafen. Das Zentrum bildet die große Werkhalle, die mit ihren Maschinen und Regalen voller Gegenstände deutlich eher einer Werkstatt als einem Künstleratelier ähnelt. Im Sammelsurium eigener Ordnung finden sich gebrauchte Dinge (Vergangenheit) und neue Materialien (Gegenwart), aus denen szenographisch-fiktive Realisierungen zukünftiger Verhältnisse gestaltet werden. Der Raum verströmt eine fast schon nostalgische Aura des Tuns und Formens. Ein größerer Kontrast zu den aseptischen Produktionsbedingungen digital-virtueller Kreativer, die gerne einen Monopolanspruch auf die Zukunft reklamieren, lässt sich kaum denken.
Mit der aktuellen, inszenatorisch-räumlichen Arbeit „Change was our only Chance“ (ab 29. 5. in Wien) möchte Time’s up die Angst vor der Zukunft in eine Lust auf die Zukunft verwandeln. Ein anderes wichtiges Projekt wird im Rahmen des Festivals der Regionen 2019, das das Thema „Soziale Wärme“ hat, verwirklicht. Es kehrt die beschriebene räumliche Perspektive der künstlerisch-forschenden Arbeit um, indem sich die BesucherInnen nicht in eine Szenerie begeben, sondern Time’s up sie und ihre Lebenswirklichkeit aufsucht. Mit der „Wärmegreißlerei 1.0“ begibt sich Time’s up während des Festivals in die Region Perg-Strudengau, besucht verschiedene Standorte und widmet sich der Frage, inwieweit und in welchen Formen die soziale Wärme eine Zukunft bzw. Zukünfte hat. Vorausgegangen ist 2018 eine niederschwellige Befragung zum Thema in der Region, die – wenig verwunderlich – das Ergebnis brachte, dass für die meisten eine Gesellschaft ohne soziale Wärme weder wünschenswert noch vorstellbar wäre.
Mit der „Wärmegreißlerei“ segelt Time’s up im übertragenen Sinne hinaus aufs Land. Besucht man das Time’s up-Gebäude am Linzer Hafen, so begegnet man nicht nur aufgrund seiner Lage häufig Motiven der Seefahrt. Die Schiffsreise ist eine Metapher, die auf vielfältige Weise das Unwägbare, Unsichere und Forschende der Arbeit von Time’s up repräsentiert. Zwar gibt es geographisch kaum noch wirklich neue, unbekannte Ufer zu entdecken, andererseits gibt es bis heute kaum etwas, das den Optimismus in eine wie auch immer geartete Zukunft besser symbolisiert, als das Schiff, das den Hafen verlässt und sich auf die Reise begibt.
Festival der Regionen – „Soziale Wärme“
28. Juni bis 7. Juli in der Region Perg-Strudengau
fdr.at
im Rahmen von Vienna Biennale for Change 2019
Ausstellung „Change Was Our Only Chance“
29. Mai – 27. September 2019
Angewandte Innovation Lab, Franz-Josefs-Kai 3, 1010 Wien