Christian Steinbachers neues Buch Gräser im Wind als Abgleich und Genealogie. Über die Idee einer bis zum Stillstand verlangsamten Wahrnehmung, über Sprachskepsis und Ambivalenz anstelle universeller Wahrheiten schreibt Florian Huber.
„[…] und dann schien, obgleich nicht der leiseste Wind wehte, wahrscheinlich ein ganzer Baum zu erschauern, wobei alle seine Blätter einen plötzlichen, letzten Regen abschüttelten, dann fielen noch ein paar Tropfen, und dann, eine ganze Weile danach, noch ein Tropfen – und dann nichts mehr.“ – Mit diesen Worten endet der im Original 1958 erschienene Roman Das Gras des französischen Schriftstellers Claude Simon in der 1971 erstmals publizierten deutschen Übersetzung durch Erika und Elmar Tophoven, der 2005 eine Neuübertragung durch Eva Moldenhauer folgte. Der von Simon in diesen Zeilen gemachte Versuch, etwas Vergangenes wenigstens in der Sprache festzuhalten, indem man die eigene Wahrnehmung zu verlangsamen und zum Stillstand zu bringen sucht, ist vermutlich auch dem Lesen und literarischen Übersetzen inhärent. Diese Idee bildet jedenfalls das zentrale Motiv im Schreiben des 1913 in der madagassischen Hauptstadt Tananarive geborenen, und 2005 in Paris verstorbenen französischen Literaturpreisträgers, dessen Werk dem 1960 geborenen Linzer Schriftsteller Christian Steinbacher in seinem neuen Prosabuch Gräser im Wind. Ein Abgleich (Czernin Verlag 2017) als poetologischer Angelpunkt dient: „Ein Dehnen von Momenten ist’s, das uns da zum zentralen Vorhaben wird. Ja, immerzu gedehnt will das sein, ja und ja, und ja und ja und ja“ (S. 75).
Der Titel seiner Textsammlung erinnert dabei gleich doppelt an Claude Simon, indem neben Das Gras auch der prominente Vorgängerroman Der Wind von 1957 evoziert wird, während die für den Band zentralen „23 Seilschaften“ an die bereits 1947 entstandene Prosa Das Seil denken lassen. Das titelgebende Flechtwerk fungiert bei Simon als Sinnbild einer Historie, die dem Menschen geradlinig und zielgerichtet erscheint, aber letztlich doch unentwirrbar, verschlungen und voller Widersprüche ist, wie auch das dem Roman Das Gras vorangestellte Motto des russischen Autors Boris Pasternak unmissverständlich deutlich macht: „Niemand macht die Geschichte, man sieht sie nicht, ebenso wenig wie man das Gras wachsen sieht.“ Ihre Betrachtung verlangt daher nach einer Methode, die die inneren Widersprüche historischer Vorgänge und die mit ihnen verbundenen Traumata offenlegt, indem sie das „Werden der Menschheit [als] eine Abfolge von Deutungen“ begreift, wie der Philosoph Michel Foucault im Anschluss an Friedrich Nietzsches Genealogie der Moral formulierte.
Literatur wie Geschichtsschreibung dienen damit weniger der Begründung kultureller Identität als ihrer permanenten Kritik, indem sie an ihre Kontingenz, ihr historisches Gewordensein und somit auch an ihre Veränderbarkeit und Abhängigkeit von den herrschenden Machtverhältnissen erinnern: „Werden auch Schlussfolgerungen geboren? Oder gehen sie nur hervor?“ (S. 50). An die Stelle universeller Wahrheiten tritt dementsprechend ein Plädoyer für die Vielfalt historischer Gegenstände, Akteure und Sinnzuschreibungen, die nicht in einem gemeinsamen ahistorischen Ursprung wurzeln, sondern in ein Geflecht vielschichtiger Machtbeziehungen und Handlungen, eingebettet sind, die die Genealogie zu verorten und beschreiben sucht: „Und in ihrer Ansicht, dass schleifen auch ‚verwickelt‘ sein können, und nicht nur etwa ‚kompliziert‘, möchte ich unserem Professionistenpaar gerne recht geben.“ (S. 50). Wahrnehmungsroutinen werden durchbrochen, Worte und Dinge erscheinen in einem neuen Licht, indem festgefügte Wertvorstellungen und vermeintlich selbstverständliche Bedeutungen hinterfragt und andere Möglichkeiten des Handelns und Denkens in Betracht gezogen werden: „Auch bei L-leder denken wir unweigerlich an etwas Glattes. Ein pelziges Leder sei daher völlig widersinnig, meinte mein Gesprächspartner, als ich ihn scherzhaft fragte, wo es ihn denn mehr hinziehe, zu dem pelzigen oder zum krümeligen.“ (S. 54). Wie Claude Simons Prosa verdankt sich Steinbachers Erzählen mithin einer Sprachskepsis und einem Streben nach Ambivalenz, das das Seil kurzerhand zur Seilschaft macht und dadurch gleichermaßen auf Bergfreundschaften wie korrupte Vorteilsannahmen verweisen kann. Der Verlust feststehenden Sinns wird zum Ermöglichungsgrund poetischer Rede, da die begriffliche Mehrdeutigkeit zugleich den Garanten für sprachliche Unterscheidungen und Nuancierungen darstellt: „[…] also haltet bitte fest: Ein Volant ist keine Rüsche, ein Boy kein Portier, und eine Haube kein Deckel.“ (S. 46).
Im Rahmen literarischer Übersetzungen scheint dieses Differenzierungsvermögen besonders gefordert, wie Gräser im Wind durch die textliche Integration der Claude Simon-Übertragungen von Eva Moldenhauer und von Elmar und Erika Tophoven deutlich zu machen sucht. Während die literarische Leistung des Ehepaars Tophoven in der Rezeption häufig alleine Elmar zugeschrieben wurde, kommen bei Steinbacher stets Elmar und Erika zu Wort, deren Reden von einer dritten Figur namens Evas flankiert werden: „Eva: ‚was soll das beruhige dich‘ / Erika und Elmar: ‚ach was‘ / Eva: ‚was soll das‘“ (S. 102). So besehen liegen dem Verfertigen literarischer Texte und ihrer Übertragung kollektive Erfahrungen zugrunde, die das Geräusch der eigenen Stimme mit fremden Klängen in Gestalt anderer Sprachen und Themen, alternativer Lektüre- und Lebenserfahrungen konfrontieren. Deutschsprachige Leserinnen verdanken dem Ehepaar Tophoven etwa auch die Bekanntschaft mit dem Werk Samuel Becketts und von Nathalie Sarraute, während Moldenhauer neben Texten des französischen Ethnographen Claude Lévi-Strauss im Verlauf des letzten Jahrzehnts insgesamt sechs Romane Claude Simons ins Deutsche übertrug, die gemeinsam gelesen neue Motive, Fragestellungen und literarische Lösungsansätze sichtbar werden lassen. Sie alle umkreisen in ihrem Denken und Schreiben die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts und ihre traumatischen Zumutungen für das Individuum und die Gesellschaft, indem sie die begriffsschwache Erfahrung der Sinne in Sprache zu übersetzen und dabei literarische Traditionen umdeuten oder zu dekonstruieren suchen. Der eigene Text ist dabei Resultat des Austauschs mit anderen, deren Denken, Leben, Fühlen und Schreiben die eigene Ästhetik prägt. So treten in Steinbachers Prosa neben Claude Simon und seinen deutschen Übersetzerinnen etwa Felix Philip Ingold, Tomas Schmitt, Gunnar Ekelöf, Arthur Køpcke, Stefan Ripplinger und vor allem die Linzerin Elisa Andessner, die für den Band Fotografien beisteuerte – als künstlerische Weggefährtinnen in Erscheinung, zu denen sich Familienmitglieder und andere vertraute Stimmen gesellen, die den Schreib- und Redefluss zusätzlich durchkreuzen: „Ein Prachtsatz des Peppe heute: „,Ich weiß, dass das dort nicht passt, aber so kommt es mehr zu Geltung.‘“ (S. 265). Durch die Vielheit der Stimmen und ihre Uneinheitlichkeit wird die Prosa zur Genealogie. Im Akt des Zitierens erteilt der Dichter dem herrschenden Druck zur Anpassung eine poetische Abfuhr, die anstelle homogener Identitätskonzeptionen plurale Anschauungen und Lebensformen setzt. Florian Huber schreibt und forscht über den Zusammenhang von Literatur und Wissenschaft und lehrt an der Leuphana Universität Lüneburg.