Die Anarchismus-Textreihe in der Referentin widmet sich dem Anarchismus als eine der ersten sozialen Bewegungen überhaupt, zeichnet Anarchist*innen-Porträts und benennt aktuelle Tendenzen im anarchistischen Denken und seiner Praxis. Dieses Mal stellt der Autor Neo C. die Tier- und Menschenrechte in ein wechselseitiges Verhältnis und bietet einen kurzen Überblick über die Geschichte der Forderung nach Tierrechten.
Vegetarismus (und später Veganismus) als politische Forderung ist keinesfalls ein junges Phänomen, sondern war Teil verschiedener emanzipatorischer Kämpfe der Vergangenheit. In der historischen Aufarbeitung verschiedener progressiver Bewegungen sind diese Impulse oftmals jedoch völlig unterrepräsentiert. Vorneweg: Menschen, die sich (häufig aufgrund religiöser Motive) für einen Verzicht auf Fleisch ausgesprochen haben, gab es immer schon. Als frühester Vegetarier des europäischen Raums gilt heute etwa der Vorsokratiker Pythagoras – und dementsprechend wurden vegetarisch lebende Menschen bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts als Pythagoreer bezeichnet. Der historische Abriss in diesem Artikel beginnt jedoch mit dem englischen Bürgerkrieg, weil sich von da an eine Kontinuität von Vegetarismus als politisches Programm bis in die Gegenwart verfolgen lässt.
Über eine vergessene Verbundenheit – die Tradition der Tiere in der Linken
So galten die Jagd und der Verzehr von Fleisch zur Zeit des englischen Bürgerkrieges als Privileg des Adels, was Teile der Unterschicht gewissermaßen aus einem Klassenstandpunkt heraus zum Anlass nahmen, sich mit den ausgebeuteten und getöteten Tieren zu solidarisieren. Beziehungsweise begriffen häretische Gemeinschaften den erzwungenen Fleischverzicht als Anlass zur Rebellion und agitierten innerhalb der verarmten Massen zur Revolte gegen die Verhältnisse.
Auch im Kampf um die Abschaffung der Sklaverei gab es immer wieder Stimmen, die das abolitionistische Programm, also ein Programm zur ganzheitlichen Abschaffung der Sklaverei, mit Forderungen nach Vegetarismus verbanden. Benjamin Lay als Verfasser eines der frühesten dezidiert abolitionistischen Werke All Slave-Keepers that keep the Innocent in Bondage (1737) rief zum Boykott aller aus Ausbeutungsverhältnissen stammender Produkte auf – und schloss solche „tierlichen Ursprungs“ konsequent mit ein. Neben Lay stehen auch Personen wie John Woolman (1720–1772) oder später Orsan S. Murray (1806–1885) für die Verknüpfung von Abolitionismus und Tierrechten.
Im Kontext der im Ergebnis bürgerlichen Französischen Revolution lassen sich sowohl hinsichtlich ihrer Ideengeber als auch während der Phase ihrer konkreten Realisation Einflüsse aus der vegetarischen Bewegung feststellen. So gilt Rousseau (1712–1778) nicht wenigen als jemand, dessen Theorien Grundgedanken nicht nur der sozialistischen, sondern auch der Tierrechtsbewegung enthielten.
Mit John Oswald (1760–1793), dem Autor von The Cry of Nature; or, an Appeal to Mercy and to Justice, on Behalf of the Persecuted Animals, kämpfte und starb ein Vordenker des Tierbefreiungsgedankens im Frankreich der Revolutionszeit.
In der Pariser Kommune 1871 stehen die Revolutionärin Louis Michel und der Anarchist Elisee Reclus sinnbildlich für die Verbindung verschiedener emanzipatorischer Anliegen zu einem ganzheitlichen Befreiungskampf. Über Michel Louis gibt es die Anekdote, dass sie während eines Barrikadenkampfes unter Einsatz ihres Lebens einer in Gefahr geratenden Katze zur Hilfe eilte – unzweifelhaft ein Akt speziesübergreifender Solidarität. Reclus wird 1901 einen Artikel mit dem Titel Zur vegetarischen Lebensweise schreiben und darin sein Entsetzen über die systemische Gewalt an Tieren äußern.
Als sich Anfang des 20. Jahrhunderts u. a. in Großbritannien die Suffragetten formierten, ist deren personelle Schnittmenge mit der Anti-Vivisektionsbewegung1 derart groß, dass Medizinstudenten jener Zeit häufig Veranstaltungen der Feministinnen stören, um ihren Unmut gegen die Antivivisektionist*innen kundzutun. Die in diesem Zusammenhang erwähnenswerten Brown Dog Riots2 zwischen 1903 und 1910 legen ihrerseits Zeugnis davon ab, dass die Empathie mit den gequälten Tieren auch bei den Arbeiter*innen tief verankert war.
Magnus Schwantje ist eine weitere Person, deren Namen bei der historischen Suche nach Verbindungen zwischen Tierrechten und anderen sozialen Kämpfen fallen muss. Der Verfasser von Schriften wie Sittliche Gründe gegen das Fleischessen und der Begründer des Bundes für radikale Ethik war bekannt dafür, ein politisches Programm zu vertreten, das Tier- und Menschenrechte in ein wechselseitiges Verhältnis stellt.
Mit Rosa Luxemburg und später Leonard Nelson stehen zwei Personen aus der sozialistischen Bewegung exemplarisch dafür, wie die Solidarität mit den Tieren auch in diesem Kontext eine Rolle gespielt hat. Während Luxemburg trotz allen bekundeten Mitleids mit Zoo- oder Arbeitstieren selbstwidersprüchlich weiter Fleisch verzehrte, war Nelson als Gründer des Internationalistischen Sozialistischen Kampfbundes Teil einer Organisation, deren Anliegen die Beendigung jeder Form der Ausbeutung vorsah – einschließlich jener der Tiere. Nach dem zweiten Weltkrieg war es vor allem ein Verdienst der Frankfurter Schule rund um ihre prominentesten Vertreter Horkheimer, Adorno und Marcuse, „die Tierfrage“ innerhalb revolutionärer Theorien lebendig zu halten bzw. sie auf ein neues Fundament zu stellen. Ihre u. a. in der Dialektik der Aufklärung entfaltete Fundamentalkritik am instrumentellen Verhältnis zur Natur liest sich auch wie ein Plädoyer für Tierbefreiung. Die maßgeblich von der Kritischen Theorie beeinflusste 68er-Bewegung hatte in ihrem Kern zwar wenig übrig für Tiere, insbesondere in England entstanden aber ab den 1960er-Jahren radikale Netzwerke, die mitunter zur Proklamation der ALF (Animal Liberation Front) im Jahre 1976 führten. In Deutschland ist die Entstehung einer Tierrechts- bzw. Tierbefreiungsbewegung stark mit der autonomen Linken verwurzelt, aus der heraus sich Gruppen hervortaten, die ihre Herrschaftskritik auf das Mensch-Tier-Verhältnis ausweiteten. Beispielhaft dafür waren die Tierrechts-Aktion-Nord (TAN) oder die Vegane Offensive Ruhrgebiet (VOR).
Veganismus heute
Heute ist Veganismus ein gesellschaftlich längst akzeptierter Lebensstil geworden – und das ist nicht vollumfänglich als Errungenschaft zu betrachten. Der kurze historische Abriss über die Entstehung der Tierbewegung zeigt, dass die Forderung nach einem Ende der Gewalt gegen Tiere oft in Verbindung mit anderen Befreiungskämpfen aufgetreten ist. Sie wurde begriffen als Teilaspekt eines oft revolutionären Programmes, das eine ganzheitliche Abschaffung von Ausbeutung vorsah – davon ist in der heutigen Tierbewegung und erst recht in der diffusen veganen Szene nicht mehr viel zu sehen. Veganismus wird auf gleich mehreren Ebenen zu etwas verklärt, was seinen Ursprüngen nicht gerecht wird: er gilt oft als individuelle Lebensentscheidung, statt als gesellschaftliches Erfordernis. Als solches wird er überwiegend auf die Bewusstseinsebene reduziert und als allein moralphilosophische Fragestellung verhandelt, anstatt ihn kapitalismuskritisch und materialistisch zu begründen. Veganismus wird zum besseren Konsum, statt zur Gesellschafts- und Ökonomiekritik. Gleichzeitig gibt es viele sich als herrschaftskritisch verstehende Menschen, die keinen Widerspruch darin sehen, auf der einen Seite Herrschaft abzulehnen und sie andererseits über die sozusagen nichtmenschlichen Tiere ohne Bedenken auszuüben. Beides ist kritikwürdig.
Für Veganarchismus
Als ultimative Ablehnung jeder Form von Herrschaft gilt der Anarchismus. Dieser allerdings hat keinen guten Ruf, wird er doch zu Unrecht wahlweise mit Chaos, Gewalt oder naivem Utopismus assoziiert. Anarchismus als politische Bewegung besitzt diesen Vorurteilen zum Trotz neben einer oft verschwiegenen historischen Relevanz aber auch eine belastbare Theorie und Praxis, die noch heute viele soziale Bewegungen inspiriert. Einheitlich ist er derweil gewiss nicht; wie bei fast allen Bewegungen gibt es verschiedene Strömungen. Einige anarchistische Basics, die sich bei ausreichender Abstraktion von den Unterschieden feststellen lassen, gibt es aber dennoch: neben dem Ziel der Abschaffung des Staates als eine notwendige Bedingung für Herrschaftslosigkeit gelten Dezentralität, Solidarität, Freiwilligkeit und Bedürfnisökonomie als anarchistische Tugenden. Der offensichtlichste Grund dafür, als Anarchist*in vegan zu leben, ist freilich der Widerspruch zwischen dem Anspruch auf Herrschaftslosigkeit und der in der Tierausbeutung realisierten Gewalt gegen Tiere. Wer Tiere und ihre Produkte konsumiert, übt geradezu maximale Herrschaft über empfindungsfähige Lebewesen aus. Das kann gewiss nicht im Interesse eines Ideals sein, das Herrschaft zum Grundübel erklärt. Aber auch an der veganen Szene muss konsequent Kritik geübt werden. Speziesismus, der in Analogie zu anderen Ismen, wie Sexismus oder Rassismus, die Ausbeutung von Lebewesen aufgrund ihrer Spezieszugehörigkeit versteht, ist nämlich kein individuelles, moralisches Vorurteil, das durch sittliche Apelle auf der Bewusstseinsebene anzugreifen wäre – jedenfalls nicht ausschließlich. Vielmehr ist Speziesismus eine gesellschaftliche Praxis, hinter der eine materielle und ideelle Infrastruktur steht, die nicht allein durch veränderten Konsum überwunden werden kann. Wer es ernst meint mit der Tierbefreiung, der kommt nicht umhin, sich der Herrschaftskritik des Anarchismus anzuschließen und Veganismus als antikapitalistisches libertäres Programm zu verstehen: Solange kapitalistische Sachzwänge Natur in Wert setzen und der Zwang zur Akkumulation rücksichtslos Lebensräume vernichtet, werden Tiere leiden. Solange es die objektive Notwendigkeit gibt, durch Profite Wachstum zu erzielen und Tierausbeutung ein Mittel dazu ist, diesem Ziel zu genügen, werden Tiere leiden. Ich gehe sogar so weit zu sagen: Solange es zwischenmenschliche Herrschaft gibt, kann es keinen Frieden mit den Tieren geben. Letztlich haben beide Seiten, die anthropozentrischen Anarchist*innen wie die konformistischen Veganer*innen, einen erheblichen blinden Fleck, der verhindert, Gemeinsamkeiten in den Blick zu nehmen.
1 Als Vivisektion gelten alle operativen Eingriffe am lebendigen Organismus. Anfang des
20. Jahrhunderts galt die Vivisektion allerdings als Synonym für jede Art von Tierversuchen,
deren Abschaffung die Anti-Vivisektionsbewegung forderte.
2 Als „Brown Dog Riots“ werden die gewaltsamen Auseinandersetzungen rund um eine
von der Anti-Vivisektionsbewegung in Gedenken an die Opfer von Tierversuchen aufgestellte
Statue bezeichnet. Insbesondere die medizinische Fakultät und ihre Studenten störten sich an dem Mahnmal, das die Inschrift trug:
„Männer und Frauen von England, wie lang sollen diese Dinge andauern?“
Literaturtipps
Leo Tolstoi, Clara Wichmann, Elisee Reclus, Magnus Schwantje u. a. (2010): Das Schlachten beenden! Zur Kritik der Gewalt an Tieren. Anarchistische, feministische, pazifistische und linkssozialistische Traditionen.
Louise Michel (2017): Memoiren. Erinnerungen einer Kommunardin. Herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Jörn Essig-Gutschmidt.
Matthias Rude (2013): Antispeziesismus. Die Befreiung von Mensch und Tier in der Tierrechtsbewegung und der Linken.
Max Horkheimer/ Theodor W. Adorno (2011): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente.
Neo C. (2023): Veganarchismus. Thesen zum Verhältnis zwischen Veganismus und Anarchismus.
Tom Zimmermann (2019): Die Pariser Commune, die Anarchist*innen und die Tiere. In: Magazin Tierbefreiung: Ausgabe 102.
Die Anarchismus-Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch, bzw der Gruppe Anarchismusforschung entstanden, die ebenso Themen und Autor*innen der Reihe betreut.
Siehe auch: anarchismusforschung.org