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Auf Durchzug ausrasten

By   /  1. Juni 2017  /  No Comments

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Avanti avanti, jalla jalla und weiter und weiter rollt der Verkehr viel­spurig, mehrsprachig und breit gefächert an fahrenden Pflastersteinen vorbei bis über den Rand gefiedert durch die Heide. Hajde hajde! ruft Angela Flam als diesjährige Chronistin des Festivals der Regionen – und liefert uns vorneweg Tempo, Vergangenheit und Atmosphäre aus Marchtrenk in Oberösterreich.

Hier ein Werbeplakat, dort eine Tankstelle, zwischen Häusern große Hecken und Industrie und hin und wieder eine wandernde Schotterpyramide mit Bachstelzen auf den vorgelagerten Pfützen. Fasten your seatbelts! Marchtrenk, eine rastlose Raststätte. Man könnte ein drive-in, drive-through, drive out, ein drive me crazy als Wahrzeichen vermuten. Oder eine rotierende Tankstelle auf Achse. Fehlgeschlagen. Das Wahrzeichen ist der Wasserturm außerhalb des Zentrums.

Wo bitte ist das Zentrum? Zwischen den Kreisverkehren. Zwischen dem Kreisverkehr beim Lidl und dem Kreisverkehr beim Interspar entlang der alten Bundesstraße, dazwischen der Kreisverkehr beim Corner Cafe & ehemaligen Greißler ums Eck, zurzeit ein DHL-Paketshop. Take a seat, relax and enoy! Rechts und links die alte und neue Kirche sowie alte Wirtshäuser, die neu umgebaut wurden. Die alten Heidehäuser sind aus dem Stadtbild verschwunden und die Soldaten auch. Wo sind sie geblieben? Es gibt Bänke, Banken, Cafes, Geschäfte, das Stadtamt und Marktplatzcenter, darin das World of Travel, das Athina und ein Coworking-Space für digitale Nomaden. Geschäfte kommen und gehen. Was läuft, läuft durch, greift nicht am Schotterboden. Eine Prachtstraße zum Meer wird man keine finden, auch keinen Palast (außer China Moon Palast), keinen Wolkenkratzer mit reich verzierten Balustraden im Netz rautenförmiger Friese konzipiert, nein, nichts von alledem. Aber Bahnübergänge gibt es, die es nicht mehr gibt: sie sind durch Schranken gesichert. Und Straßen, die im Nichts enden. Manche sind seit Jahren zurzeit gerade in Arbeit und nicht befahrbar und vor der Autobahnbrücke steht eine Ampel, die gestohlen wurde. Wenn es blinkt, wird es entweder rot oder grün.

Das Denkmal von Kaiserin Maria Theresia sind Schwarzföhren, mit denen sie die Heide aufforsten ließ, als Windschutz & um den Boden fruchtbar zu machen. Wo sind die schwarzen Föhren? Sie sind rissig geworden, vom Wind gebeutelt/geknickt. Von der Wirtschaftswunderblume verweht. Geht das durch? Der Schotter als Symbol für Ursprung und Unendlichkeit?

Marchtrenk ist als Wirtschaftsfaktor modern und menschlich geworden & wurde 2016 die beliebteste Gemeinde im Herzen Europas. And whatever you need. We will provide! Die Heide ist kein Streudorf mehr mit Heidekräutern & strohgedeckten Heidehäusern entlang der Pferdeeisenbahn und dem Funkenflug der K&K Elisabethbahn, sondern ein dicht besiedeltes Wohn- und Industriegebiet mit Anschluss an die Autobahn, Schiene und darüber kreisenden Airbussen vom Blue Danube Airport. La dolce vita! Man kann die Uhr nach dem Flieger stellen oder sich außerhalb der Zeit treffen. Mit dem Dröhnen der Motoren wird es 10 Uhr 10, die Lufthansa startet nach Frankfurt, um 13:05 nach Paris, DO um 17:20 erhebt sich die Small Planet über der Wäschespinne nach Heraklion, gefolgt von der Austrian nach Rhodos, DI 12:00 startet die Eurowings nach Palma, FR 15:40 die Air Cairo nach Marsa Alam … Warum reitet/fliegt ihr durch dieses giftige Land? fragt der Junker den Marquis in Rilkes Ballade. Um wiederzukehren! ist die Antwort.

Was macht ein Wasserturm im Überschwemmungsgebiet der Traun, wo früher das Tethysmeer war? Er versorgt 35.000 ungebetene Gäste: Soldaten in Kriegsgefangenschaft, die unfrei, nach Haager Konvention zwischen 1914–18 in ‚Feindesland‘ Arbeit verrichteten mussten. „Nobody is left behind!“ Wir lassen keinen zurück! 1879 Soldaten sind in Marchtrenk zurückgeblieben: 1382 Italiener, 467 Russen, 1 Rumäne, 11 Serben und 18 Unbekannte, die nach Hause gehen wollen und jene, die anderswo zurückgelassen wurden und endlich nach Hause kommen wollen, um festzustellen, dass es kein Zuhause mehr gibt. Aber wohin reist ihr dann? „Immer nach Hause“, ist die Antwort jeder Odyssee, jeder Irrfahrt von Wilhelm Meister bis Heinrich von Ofterdingen. Die schwarze Barackenstadt von damals im Dorf ist verschwunden. Das Theater hinter Stacheldraht gibt es nicht mehr. Auch keinen Stacheldraht. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Generation „auf der Flucht“, der nachfolgenden Generation „sich verflüchtigen“ und einem „flüchtigen Durchzugsort“ auf durchlässigem Schotterboden?

Seit 1946 wurden auf dem ehemaligen Lagerareal Flüchtlinge (sog. Heimatvertriebene) angesiedelt und die Bevölkerungszahl hat sich verdreifacht. Der Zustrom setzt sich laufend fort, auch heute, in vielschichtiger Schichtung, unter ihnen immer wieder Vertriebene & Asylsuchende, ein stetig ansteigender Strom zwischen sichtbaren und unsichtbaren Zu(Ein)Flüssen, von Schicksalen und Traumata und Spuren, die darin wandern, die wir nicht lesen können. Haben sie sich angewurzelt? Wie die Föhren der Maria Theresia? Wurden sie nach den gängigen Vorstellungen von Integration und Zugehörigkeit umgetopft/eingebürgert, in Zwischenräumen verfrachtet/verortet? Wir sind geronnene Zeit, schreibt Marisa Madieri. Nicht nur Menschen, auch Orte sind geronnene Zeit, mehrfache Zeit. Ein Ort ist nicht nur seine Gegenwart, sondern ein Zeitenlabyrinth aus verschiedenen Epochen. Manche Orte sprechen, andere hüllen sich in Schweigen & beinhalten ein undurchsichtiges Geheimnis, das sorgfältig entschärft und geborgen werden will, so wie die im Juli 2014 gefundene 50-Kilo-Fliegerbombe in der Traun und so manche, die noch im Umkreis verborgen liegen.

„Unsere Eltern räumten die Trümmer der zerstörten Häuser mit den Händen weg – wir, die nächste Generation, sind mit dem Aufräumen der seelischen Trümmer beschäftigt“ schreibt Bettina Alberti. Den generationsübergreifenden (Kriegs)Themen ist nachzuspüren, den verdrängten, den verschwiegenen, den unausgesprochenen, die immer noch & immer wieder neu überschatten und vielleicht gar nicht geweckt werden wollen, die (wie die Sternmühle?), im Dornröschenschlaf schlummern, bis die Zeit reif ist oder „Es ist Zeit, dass es Zeit wird?“ „Es ist Zeit“, schreibt Paul Celan „dass der Stein sich blühen bequemt“ & die darin herumirrenden Themen (Identität/ Unzugehörigkeit / Rastlosigkeit / Suche / …) umgeschichtet, belichtet und neu gestimmt werden. 2014 wurde in Marchtrenk ein Friedensweg errichtet.

Die Heide ist einen Abstecher wert! Man kann durchziehen, einkehren, absteigen oder zum Advokaten in Vaduz aufsteigen und Marie Antoinette auf der Durchfahrt nach Frankreich zuwinken. Die Römer waren hier, die Bayern keltischen Ursprungs aus dem heutigen Frankreich, Napoleons Truppen, die spanische Grippe, Plünderer, Brandstifter, amerikanische Panzer rollten durch, während Schulkinder im Unterricht Kartoffelkäferlarven auf den Feldern abpflückten, streitende Eheleute wurden in einer Wiege an den Pranger gestellt usw., bis zum nächsten Heckenschnitt, zum nächsten Reifenplatzer, zum nächsten Trachtensonntag, zur nächsten Steuerreform, zur nächsten Tankstelle, zur nächsten Maikäferinvasion, zum nächsten Fitnessrun, darunter Schützengräben und verzierte Tonscherben einer jungsteinzeitlichen Siedlung und Sperrmüll, darüber Sieg, Summer in the City, Seuchen, Zugverspätungen, ein abstürzendes Sportflugzeug, Mord- und Totschlag an der Tankstelle, es lebe der Kaiser, es lebe der Führer, es lebe der Pagenkopf, es lebe der Hula Hoop.

Auf Reisen kann man eine bestimmte Richtung einschlagen oder sich im Strudel der Dinge verirren, seine Identität verlieren oder den Sinn des Lebens finden oder ständig vorwärtsstrampeln. Was ist das Ziel solcher Fahrten? – „Reisen, nicht um anzukommen, sondern um zu reisen, um so spät wie möglich anzukommen, um möglichst niemals anzukommen“, ist die Antwort von Claudio Magris. Ankommen, abfahren oder durchreisen? Alles bewegt sich, mal pulsierend, mal flüssig, mal schleppend bis zäh, Stau. Stopp. Speed. Der Verkehr als Lebensader – das Ende der Gemütlichkeit? Ständig durchströmt werden? Rien ne va plus. Haltmachen. Pausieren. Im Durchzugsgebiet wird auch gerastet. Früher Herberge & Pferdetränke, heute Terminal & Avanti. Man kann sich Outdoor beim Radfahren entspannen oder beim After-Work im Fitnesszentrum verschnaufen, am Bahnhof eine Zwischenstation einlegen & Containerzüge von Hamburg Altona nach Istanbul und weiter bis China beobachten. Oder im eigenen Garten gemütlich relaxen, im Pool untertauchen, am Trampolin die Schwerkraft überwinden, sich mit dem Hund hinter der Hecke verschanzen und Landkarten studieren, Reiseberichte lesen. My home is my castle! Vorhang zu & mit dem (Traum)Schiff in See stechen? Oder vor dem rotierenden Globus sitzen und sich von der Fliehkraft erfassen und weiter bis über die Unendlichkeit hinaus treiben lassen …

Marchtrenk – I spend my lifetime running. El Camino! Der Pilgerweg bis ans Ende der Welt verläuft am nördlichen Traunufer. Am südlichen Traunufer (dem einstigen Jenseits) erinnert ein Denkmal an ein Massengrab – hier führte im April 1945 der Todesmarsch ungarischer Juden vom KZ Mauthausen nach Gunskirchen und weiter nach Ebensee bis ins Grab in den Wolken … Am Jakobsweg kann man bis Santiago gehen und bei der Turteltaube Liegestützen machen, unter laufenden Turbinen im Sprühregen stehen oder in umgekehrter Richtung dem Jerusalemweg folgend im FKK Club Solearis alle Hüllen fallen lassen, Kormorane und Reiher sichten, Enzian und Frauenschuh und Hummelorchidee, die man sonst nur im Hochgebirge antrifft. Der Pilgerweg verläuft in diesem Abschnitt als Fitnessparcours, wo man bei Föhnwetter bis zum Traunstein sehen und mit den Federwolken weiterziehen kann –

Marchtrenk – eine vom eiszeitlichen Gletscher geformte Terrasse mit Ausblick bis zu den Korallenriffen, den heutigen Kalkalpen.

Marchtrenk – Transitzone & Zufluchtsort, ein aufgeladener Raum? Ein vielschichtiges Konglomerat?

Marchtrenk – ein rasender Rastplatz zum Auftanken und Haltmachen, zum Einkehren und Pausieren, zum Abstürzen und Entgleisen. Früher zogen Pferde durch, heute Pferdestärken. Ob flüchtige Station, ob (durch)läufiger Rastplatz, man kann auf Durchzug sein, auf Durchzug stellen und auf Durchzug ausrasten – im doppelten Sinn und das Ganze dazwischen: haltmachen pausieren auftanken verschnaufen abspannen abchillen abspacen ausklinken auszucken überschnappen und durchknallen.

Man kann auch warten. Warten auf was? Warten, bis wer vorbeikommt. Ungebetene Gäste beispielsweise. Vom 30. Juni bis 09. Juli 2017 wird Marchtrenk vom FDR aufgestört. Don’t worry don’t cry, ride a horse and fly!

Festival der Regionen, 30. Juni – 09. Juli 2017 in Marchtrenk

Das umfangreiche Programm: fdr.at

 

Eröffnung: HYMN TO LOVE von Marta Górnicka

HYMN TO LOVE for orchestra, stuffed-animal choir, and others is a show about Europe closing ist ranks. Nation after nation is crying out: “Give us back our country!” It is also a show about how every nation loves to forget. And how human time bombs are so furious they’re blowing their fuses. Thus, history repeats itself. HYMN TO LOVE is the last piece in the Polish director’s European triptych inspired by Mother Courage. The Holocaust and the image of an orchestra playing music in death camps are a starting point for Górnicka to address the rise of present-day European nationalism and the migration crisis. In her libretto to HYMN TO LOVE, Marta Górnicka exposes the obscene language of politics today, quoting statements by fundamentalist fighters and terrorists, alongside speeches made by legitimate politicians. Górnicka mashes up Internet hate-speech with pop lyrics and patriotic songs.

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About the author

Angela Flam ist Chronistin beim diesjährigen Festival der Regionen in Marchtrenk. Sie recherchiert bereits im Vorfeld über die ausgewählten Projekte in Bezug auf das Thema „Ungebetene Gäste“ & den Festivalort & formuliert erste Überlegungen samt Quergedanken, Verknüpfungen und Gegenfragen, die sie im Laufe des Festivals noch ergänzen, reflektieren, analysieren, vertiefen und ggf. auch verwerfen wird. Während des Festivals nimmt sie an sämtlichen Veranstaltungen, Performances, Ausstellungen und Diskursen teil und wird sich mit Künstler/innen und Besucher/innen austauschen. Selbst auf der Bühne zu sehen ist sie beim „Lesefest“ in der Alten Kirche und als Tänzerin beim Projekt „NN“ von Willi Dorner. Ihre gesammelten Eindrücke werden im Festivalkatalog zu lesen sein. Angela Flam *1968, Marchtrenkerin mit donauschwäbischen Wurzeln, Tänzerin & Tanzpädagogin für künstlerischen Ausdruckstanz und Bewegungsanalyse, kfm. Angestellte und freischaffende Künstlerin im Bereich der darstellenden Kunst und Literatur (experimentelle Texte in Literaturzeitschriften und Büchern: Schwarze Kanister 2012, seismographie – ein Reigen 2015), intermediale Performances, 2011 Marianne-von-Willemer-Preis der Stadt Linz, 2013 Ö1hautnah und anderes: angelaflam.jimdo.com

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