Nicht nur anspruchsvolles Theoriekompendium, sondern eine weitläufige Theorie zur kulturellen Übersetzung, die an verschiedenen Stellen von freier Gedichtform durchzogen ist: Pamela Neuwirth hat das außergewöhnliche Buch von Rubia Salgado gelesen.
Äffin in der Kolonie geworden
Äffin in der Metropole geblieben.
Auf Bühnen ist sie gestiegen:
Äffin aus der Kolonie,
Unterhaltung in der Metropole.
Vor dem Spiegel weiß,
androgyn und kein Weib,
liegt die Bühne nicht in Bordellen:
Sie redet vor Aktivist_innen,
Künstler_innen, Intellektuellen.
Die Äffin ist immer einsam,
denn das Bild meistens trügerisch.
Einsam unter ihresgleichen,
die ihr nie gleich sind.
Zu rechnen war von Anfang an mit einem anspruchsvollen Theoriekompendium, das einen Einblick in MAIZ’ widerständige Arbeit erlaubt. Rubia Salgados Buch „Aus der Praxis im Dissens” ist das auch, nur dass die theoretischen Streifzüge neben Briefen, Essays und Interviews zudem von Lyrik durchzogen sind. Das verwundert zunächst bloß dann, wenn man vielleicht für einen Moment vergessen hat, dass Lyrik die wohl künstlerischste Form der Literatur darstellt und sich in aller Regel einer objektiven Schau, Logik oder rationalen Definition entzieht und stattdessen davon lebt, sich in ihrer ganzen Rätselhaftigkeit der Welt zu präsentieren. Man kann das auch (man ist versucht zu sagen: gerade heute) als widerständig interpretieren. Widerstand ist schließlich das große Thema, welches sich als roter Faden durch dieses Buch zieht. So versteht es sich, dass die hier vorliegende Sammlung an Texten, diese Ansammlung an Einblicken in MAIZ’ Denken und Wirken trotz oder wegen der künstlerischen Einbrüche ins Literarische tatsächlich als Instrument dienen kann. Eine Theorie (des Handelns) soweit anzulegen, dass sie wie ein Instrumentarium verwendet werden kann, um politisch-taktisch zu agieren, ist etwas, das naheliegend erschient, aber dennoch nicht so häufig passiert. Dass dies mit den vorliegenden Texten möglich sein kann, ist die schöne Überraschung, mit der die Leserinnen „konfrontiert“ werden. Dieses Instrumentarium als Handbuch zu verwenden, fordert – im Dissens – die Leserinnen zu Abenteuern im Kopf auf: eurozentristische sowie anthropozentristische Denkweisen (folgen Sie einfach den Tieren im Buch) werden zurückgelassen, um gesellschaftliche Konventionen und Naturgesetze radikal neu zu erfinden; das ist dann wie in einem Klartraum.
So gelesen funktioniert „Aus der Praxis im Dissens“ in seiner „unkonventionellen Dokumentation widerständiger Prozesse” als nachvollziehbare Anleitung, wie rassistischen, reaktionären und neoliberalen Politiken entgegnet werden kann. Für das im Juni 2015 von der Soziologin Andrea Hummer im Verlag transversal texts aufgelegte Buch, zeichnen letztlich zwei Autorinnen verantwortlich: Rubia Salgado und, wie Rubia Salgado selbst betont, MAIZ selbst, jener Linzer und von migrantischen Frauen getragene Verein, der seit seinem Bestehen die Utopie einer sozialen Gleichheit zu entwickeln versucht. Salgado, eine der Gründerinnen des Vereins MAIZ, der nun seit zwanzig Jahren und noch immer notwendigerweise die Stimmen der Migrantinnen vertritt, zeigt das politische Dilemma von Ungleichheit auf, rückt ins Licht, was gewöhnlich im blinden Fleck der gewohnten Verhältnisse verschwindet und verhandelt autonome Möglichkeiten gesellschaftlichen Handelns neu aus.
Aus Sicht der Migrantin leitet sich das Grundmotiv bei Salgado so ab: „Ich, als Migrantin, bin in einer Position, die stark mit Verletzlichkeit zu tun hat, aber der Sprung, die Verweigerung sind notwendig.“
No pasarán! / Eu passarinho!
Der Skandal, das Kollektiv und die Sprache
Der für viele Migrantinnen nach wie vor schwierige Umstand vom Gesetzgeber nicht mit den gleichen Rechten und Pflichten wie die Mehrheitsgesellschaft anerkannt und geschützt zu sein, dieser Skandal, ist für MAIZ der Antrieb, diese Utopie der ethologischen Gleichheit weiterzuentwickeln. Die Verletzlichkeit in etwas Neues, vielleicht etwas Wehrhaftes zu verwandeln, wird im Buch „Aus der Praxis im Dissens“ als die existentialistische Ausgangsposition behandelt, von der aus sich das Kollektiv oder die einzelne Akteurin kreativ an die Verhältnisse nicht anpassen. Die Nicht-Anpassung will ein Resultat aufzeigen, wie man in der Welt partizipiert, dabei aber nicht verpflichtet wird, in Gefügen zu leben, die als nicht sinnvoll und gerecht empfunden werden. So werden von den MAIZ-Frauen innerhalb der sozialen Ungleichheit vitale Positionen ausgelotet, die von Hoffnung, Empörung und Kampf erzählen. Das ist eine große Freiheit. Davor liegen aber Verhandlungen. Dabei stehen die Akteurinnen einem Konsens, beziehungsweise den unfreien Verbindlichkeiten allen Ja-Sagens skeptisch gegenüber. Von MAIZ wird diese Problematik des Konsens noch etwas härter, und auch intern praktiziert, als folgende These auf den Punkt gebracht: „Jede Einstimmigkeit ist dumm“. In dieser demokratischen Grundhaltung und Bereitschaft zum Ausverhandeln beschäftigen sich die Autorinnen nun weniger mit Ideologien, sondern in erster Linie mit den real vorherrschenden sozialen Lebensbedingungen von Migrantinnen. Das erklärte Ziel ist nach Salgado „die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen von Migrantinnen.“
Das Erlernen der deutschen Sprache spielt hierbei eine zentrale Rolle. Die Sprache wird aber nicht als Mittel des Empowerments und als Ermächtigung an sich begriffen, sondern an ihr wird das dialogische Ausverhandeln probiert und im Prozess des Zweispracherwerbs die sichere Distanz zu den politischen Verhältnissen geübt. Solche fein austariert angelegten Kommunikationsformen liegen, wohlgemerkt mit dem Erwerb von, in unserem Fall deutscher Sprache, Lichtjahre entfernt von den aktuell wieder von staatlich-ideologischer Seite geforderten monolingualen Sprachvorschriften.
Das grosse Fressen
Ja, Anthropophagie. / Du wirst mich schlucken.
Nur die Anthropophagie verbindet uns. / Soziologisch. / Wirtschaftlich. /
Philosophisch.
Das Konzept der Anthropophagie als politische Haltung auf beißende Fragen ist einer Kunstströmung der 1920er entlehnt, welche sich geografisch in Südamerika verorten lässt. Dort wurde die Idee des Einverleibens, Verdauens und des Neukreierens in einem subkulturellen künstlerisch-philosophischen Kontext entwickelt. Leicht lässt sich an Ort und Jahreszahl erkennen, dass hier von anti-kolonialistischem Widerstand die Rede ist: Gefressen, einverleibt und verdaut wird in der anthropophagischen Praxis vom Menschen das, was von Menschen als inakzeptabel erachtet wird in der Utopie ethnologischer Redlichkeit. Damals, und soweit das Konzept der Anthropophagie, fraß man im unerhörten Widerstand die Kolonialherren auf, alternativlos.
Doch kann das drastische Konzept der Menschenfresserei in der westlich-zivilisierten Welt noch verstanden werden? Erinnert man sich an MAIZ’ Anfänge finden sich Hinweise, dass die künstlerische Praxis der Anthropophagie noch nicht obsolet ist. Als das damals noch kleine MAIZ erste Versuche einer Anknüpfung an regionale Frauenkollektive unternahm, und als das Ansinnen, Sexarbeiterinnen in die Vereinsarbeit mit einzubeziehen, von den hiesigen Frauenvertreterinnen zuerst nicht, oder nicht ausreichend verstanden wurde, war den Gründerinnen bald klar, dass die radikal autonome Haltung eine Grundsatzentscheidung für die weitere Entwicklung von MAIZ sein musste. Die gemeinsame Arbeit und Kooperative mit Sexarbeiterinnen aus der Karibik in Linz stand also am Beginn. Das Kollektiv wuchs, als die Sexarbeiterinnen befreundete Frauen zu MAIZ führten. Entstanden war somit eine internationale Gruppe von migrantischen Frauen, die sich in post-kolonialen Machtstrukturen wiederfand. Die Verhandlungen nahmen ihren Anfang. Im Buch finden sich nun etwa zur Praxis, bzw. auch zur Realität von Sexarbeiterinnen einige sehr berührende Erzählungen über die „widersprüchliche Verbindung von Degradation und Faszination“, der besonders migrantische Sexarbeiterinnen ausgesetzt sind. Rubia Salgado selbst frisst und verdaut diese komplexen Verbindungen von Postkolonialismus, Eurozentrismus, Anthropozentrismus und den vielen anderen Ismen der Herrschaft und der ökonomisch/kulturellen Situationen etwa zu „Notizen über das Menschwerden, Affen, Migrant_innen und Kulturarbeit“. Und wer nun zum Abschluss nicht nur vor der bekannt wehrhaften Arbeit von Rubia Salgado und MAIZ, sondern auch noch Angst vor der Theorie bekommen hat: Die wehrhaften (und wahrhaftigen) Tiere im Dissens erzählen davon – in verständlicher Weise.
Rubia Salgado, „Aus der Praxis im Dissens“, transversal texts, transversal.at, 2015