Formsubversive Pointen, eine 45-seitige Fußnote und ein Stimmungsverlauf, „als würde eindringlichst etwas gesagt werden, dessen Sinn aber nicht als Vorstellung verdeutlicht werden kann.“ Thomas Raab über Christian Steinbachers Texte anhand seines neuen Buchs Scheibenwischer mit Fransen.
Den stärksten Eindruck entfalten Christian Steinbachers Prosa und Lyrik seit jeher in der Live-Performance. Einem schalkhaften Derwisch gleich deklamiert der Autor mit geschickt eingesetzten Akzenten und Pausen seine para- oder besser pata-logischen Texte so, als würde dem Publikum eine Autorität seine Urteilsbegründung verlesen. Verlegen und etwas eingeschüchtert muss es sich eingestehen, dass es zwar diese Autorität körperlich als Gefühl anerkennen muss, das Urteil hingegen nicht als kohärenter Gedanke fassbar wird. Man ahnt etwas. Doch was? Es handelt sich um ein reines, weil leeres Autoritätserlebnis mit zwischen hinein „rosinierten“, formsubversiven Pointen und Witzen.
Bereits an dieser Kurzfassung des Wirkmechanismus zeigt sich das Formvorgabe und Ironisierung kontrastierende Verfahren, das Steinbacher (*1960 in Ried) auf der Satz-, Absatz-, Kapitel- und Werkebene verfolgt. So beginnt auch ein – es sei gesagt: – wildes Buch wie der neue Scheibenwischer mit Fransen mit einem, Orientierungshoffnung erweckenden Inhaltsverzeichnis, dem wir freilich kaum Ordnung entnehmen.
Aber doch: „Für den Truthahn ein Turban“, der erste in vier Kapitel gegliederte Abschnitt, verspricht etwas wie eine Ouvertüre („Quartett, voraus“), auf die im längsten Abschnitt „Jahreszeiten in Schwarzweiß“ vier idiosynkratisch ausfransende Bildbeschreibungen von vier Zeichnungen des Künstlerfreundes Miel Delahaij folgen, die von einer 45-seitigen Fußnote (!) mit der elektronisch unterstützten Übersetzung eines Langgedichts Raymond Roussels unterbrochen werden. Die Bilder sind nicht gedruckt, man kann sie indes auf des Autors Homepage einsehen. Das Buch endet mit einer elfseitigen Sammlung vermutlich zu den Bildern assoziierten Textfragmenten. Titel: „Guckloch, spring!“, wobei man sich an Duchamp letztes Voyeurwerk Etant donnés (1946–66) erinnert fühlt.
Um einen Eindruck in die Steinbachersche Gehirnwerkstatt zu geben, zitiere ich eine Passage aus diesem Schlussstück, weil ich meine, dass der Autor hier einerseits jenes Material „parkte“, das sich nicht gut unter dem Titel „Bildbeschreibung“ in den Hauptteil des Buches einfügen ließ, dies andererseits aber deswegen, weil es typisch für seine spielerische Formmethode ist, die ich im Anschluss würdigen möchte:
„Was kennen wir denn groß aus der Ferne von einer Gegend, wo man gelbe Windjacken trägt! Eine Meerjungfer ist dann um nichts weniger blamabel winzig als das Wahrzeichen der Stadt Klagenfurt. Klitzekleine Kantate mit K gefällig? Kinkerlitzchen sind es, die die Ungeheuer aus Kärnten und die dänische Hauptstadt in einen kooperierenden Kontext bringen.“ (S. 234)
Auffallend ist, und das durchzieht alle Schriften Steinbachers, die ich kenne, der appellhafte, das Publikum scheinbar direkt ansprechende und damit auffordernde Gestus. Der offen rhetorische Duktus wird indes gebrochen, weil die beschriebenen Denkgegenstände nicht deutlich werden oder der Text bisweilen in Alliterationen oder Reime abschweift. Das erklärt wohl die genannte Wirkung bei der Live-Performance, die die Hörenden direkt adressiert, als würde ihnen eindringlichst etwas gesagt werden, dessen Sinn aber immer nur zipfelweise erhascht und nicht als Vorstellung verdeutlicht werden kann.
Der Autor spricht in diesem Sinn sehr interessant von den „kleinen Wörtern“ wie „aber“, „und“, „auch“, „denn“, „oder“ usw., die den Vorstellungsverlauf wie „Scharniere“ auch ohne Inhalt steuern. Wie in ein Gefäß könne in dieses Gerüst aus Scharnieren relativ vielfältig befüllt werden, ohne dass das Sinngefühl abreißt. Bereits der Aufklärer Karl Philipp Moritz im 18. Jahrhundert oder große amerikanische Psychologe und Lehrer der gewiss mit Steinbacher geistesverwandten Gertrude Stein, William James (1842– 1910) erkannte die Wichtigkeit dieser „nichtreferentiellen“ Worte, die gedankliche Operationen an Gegenständen, nicht jedoch Gegenstände selbst bezeichnen. Eine Parallele zur Musik drängt sich auf: Auch dort steuern harmonische Übergänge und/oder deren Variation oder Leerlassung den Stimmungsverlauf der Hörenden, bloß dass der fehlende klare „Inhalt“ dort unauffällig bleibt, weil der Stimmungsverlauf als (neben den strukturellen Merkmalen, die man aber nur mit entsprechendem musiktheoretischen Wissen erkennen kann) ein oder das Hauptmerkmal des „Inhalts“ akzeptiert ist.
„folgerichtigkeit, die den kontakt zur wirklichkeit verliert, erzielt bekanntlich eine starke poetische wirkung“, schrieb Oswald Wiener 1987 in dem Aufsatz „Wittgensteins Einfluß auf die Wiener Gruppe“. Wiewohl stark poetisiert, steht als Grundstruktur von Steinbachers Texten ein formales Argument, das aber bei aller Suggestivkraft witziger Weise nichts suggeriert. Ich denke, hierin liegt das Geheimnis dieser Poetik, wiewohl man spekulieren könnte, warum dem eigentlich so ist. Warum wirkt die Folgerichtigkeit, die solche Texte suggerieren, jedoch im Denken allenfalls einen vage zu erahnenden Gegenstand finden, ästhetisch so stark?
Eine Ursache ist gewiss der vom Autor über die Jahre immer weiter perfektionierte Wechsel der „Größendimension“ oft innerhalb eines einzigen Satzes. Im Vorstellungsverlauf „zoomt“ man freilich nicht wie mit dem Auge, sondern muss das Objektdetail neu aufbauen, was zur Folge hat, dass der Leser oder die Leserin den Faden nur halb verliert, weil er das Objekt als Prototyp ja noch hat. Auch umgekehrt „vom Kleinen zum Großen“ funktioniert der Effekt gleich. Dieser Fokuswechsel auf winzigste Details oder größte Allgemeinheiten wird bei dem im Scheibenwischer variierten Thema der Bildbeschreibung endgültig grotesk, da es wirkt, als würde man plötzlich und überraschend ein Fernrohr auf volle Vergrößerung und wieder zurückstellen.
Die Taktik, angewandt auf die zu je drei Segmenten senkrecht gedrittelten Zeichnungen Delahaijs, zeitigt überraschende Pointen, weil ja eben untypischerweise keine Vorstellungen, sondern Bilder beschrieben werden. Anders als bei Vorstellungen, die letztlich durch die aktuelle Orientierung – eben „das, was man schreiben will“ – zusammengehalten werden, wird der Text dadurch scheinbar paradox noch assoziativer: „Vier kleine Tupfer als die kleinste Ausgabe einer Tanzaufführung. Ballett wird das aber keines mit diesen Tierchen! Denn das möchten wir ihnen bestimmt nicht zugestehen hier, die zwar nicht wie manch andere Begleiter der heißen Jahreszeit [Anm.: das Bild heißt „Sommer I“] nur an Stechen und Zapfen und Beißen interessiert sind, aber doch an mangelhaften Duftnoten“ (S. 121).
Und so komme ich zum vertrackten Merkmal, das meiner Ansicht nach die Hauptursache der poetischen Wirksamkeit der Steinbacherschen Texte ist. Die auffordernde und an den Scharnierwörtern paralogisch bewegliche Argumentstruktur suggeriert eine Autorität des Autors, die dieser durch Abschweifungen, „Splittern“ (CS), offensichtlich nebensächlichen Assoziationen und lyrischen Mitteln permanent konterkariert. Der Politiker reimt gewöhnlich nicht, und der Dichter spricht gewöhnlich nicht mit autoritärem Argument. Dieser Konflikt zwischen antiautoritär-idiosynkratischer Form und autoritär-verallgemeinerndem Sprechgestus unterliegt dem gesamten Lese- oder Hörerlebnis und erzeugt eine Art Funkenflug durch Reibung, der mit gewöhnlichen poetologisch literaturhistorischen Mitteln schwer zu fassen ist. Geste reibt auf Inhalt; die Geste wird aber meist als werkimmanent ebenfalls dem Inhalt zugeschlagen. Wie ist das aber hier, wo was scheinbar gesagt werden will, aber man weiß nicht was. Jedenfalls spricht hier weder Dada noch Breton.
Wer spricht sonst? Ich kenne diese Art des „wilden“ Leseerlebnisses weder aus der Moderne, noch, wie gesagt, den klassischen Avantgarden. Auch an die Nachkriegsavantgarden ist der, für diese viel zu assoziative, den „schmutzigen“ Verlauf des realen Denkens mit all seiner Fahrig- und Unachtsamkeit nachzeichnende Stil nicht gut anzuschließen.
So finde ich Vorläufer der Steinbacherschen Schriften eher in älteren politischen Umbruchszeiten, besonders bei den wilden und um eine neue Form ringenden der späten Renaissance. Auch dort sprechen „leere Autoritäten“, die ihrem eigenen Wissen und ihren Ideologien nicht mehr vertrauen können, wiewohl sie deren Schlüssigkeit noch goutieren. Der auf Provokation ausgelegte Rabelais mit seiner, von Michail Bachtin so schön analysierten Groteske Gargantua und Pantagruel (1532/34) oder der auf die veraltende Moral spöttelnde Cervantes (Don Quijote, 1605) wären hier wohl die „rosinante“ Wahl des Literaturgeschichtlers.
Da ich ein solcher nicht bin, fühle ich mich eher zum wilden Dialog eines Béroalde de Verville im Der Weg zum Erfolge (1617) verwiesen. Auch dort sucht ein poeta doctus, dessen Wissensbegriff durch den Zeitenwandel fragwürdig geworden ist, ironisch nach einer Form, das alte Wissen neu zu fassen, um zu einem neuen Wissen mit alter Autorität zu gelangen. Dabei kommen bei Verville freilich die „großen Erzählungen“ der griechischen Philosophie unter Beschuss, wie sie später von Descartes oder Leibniz tatsächlich „dekonstruiert“ wurden.
So arbeitet auch Steinbacher an einer literarischen Form, die für die neue Zeit passen könnte, die durch demokratisierten Informationszugang bei gleichzeitigem Verfall des Spezialwissens, mit dem man diesen Zugang noch produktiv nützen könnte, und dem damit einhergehenden ADHS gekennzeichnet ist. Jetzt ist gekommen, was wir wollten: Es gibt keine Autoritäten mehr, und wenn sich dennoch jemand als eine betitelt, so wird er belächelt und schwups vergessen. Google bemisst nunmehr Qualität anhand Quantität. Das allerdings wollten wir nicht! Mit seinem Gestus steht Steinbacher damit jüngeren Dichtern wie Ann Cotten oder dem, ebenso die Ruinen der Kunst- und Philosophiegeschichte durchstöbernden Sänger und Dichter Clemens Denk (Der Zahnstocher ist auch nur ein Dreieck, 2022) nahe.
Christian Steinbacher
Scheibenwischer mit Fransen. Sichtvermerke
Czernin Verlag, Wien, 2022
Die Prosastücke der Textserie „Jahreszeiten in Schwarzweiß“ im Buch beruhen auf Zeichnungen aus der Mappe 31 urbane haikus. gedichte und zeichnungen (2019) von Miel Delahaij.