Ekaterina kocht regelmäßig für 60 UkrainerInnen, Galina stellt das Ziel über die einzelnen Schicksale. Kira spricht von einer versäumten Chance des Westens und Alexei hofft auf eine Art Roadmap. Silvana Steinbacher hat sich einen Nachmittag mit vier in Linz lebenden RussInnen unterhalten. Dieser Text abseits eines objektiven Anspruchs oder repräsentativen Querschnitts russischen Denkens spiegelt eine Stimmung, die wohl einige teilen: Nämlich jene zwischen Verzweiflung, Ratlosigkeit und ein wenig Hoffnung.
„Stell dir vor du lebst in Frankreich und Österreich beginnt einen brutalen Krieg gegen Italien. Die geflüchteten ItalienerInnen in deiner Nähe würdest du sicher auch unterstützen.“
Mit diesem Vergleich veranschaulicht mir die in Linz lebende Russin Ekaterina Vassilieva, warum sie regelmäßig für 60 UkrainerInnen kocht. Die Malerin ist die Einzige, die an diesem Nachmittag unter ihrem richtigen Namen sprechen will. Ekaterina besuchte Linz erstmals 1996, sie war zu einer Ausstellung eingeladen und blieb kurze Zeit später der Liebe wegen, wie es so schön heißt.
Galina, Kira und Alexei, so sollen sie in diesem Text heißen, möchten anonym bleiben. Das Ehepaar Kira und Alexei kam Mitte der 1990er Jahre nach Linz. Alexei versuchte sich davor in seiner Heimat als Wissenschaftler beruflich zu etablieren, doch er musste bald feststellen, dass er aufgrund des Zerfalls der sowjetischen Strukturen finanziell nicht überleben konnte, wie er sich erinnert. Galina lebt erst seit einigen Jahren in Österreich. Sie ist mit fast 80 Jahren die älteste meiner GesprächspartnerInnen. Die Atmosphäre an ihrem Arbeitsplatz und in ihrer Heimat wurden für sie unerträglich, und so entschloss sie sich noch mit 73 Jahren ihr Land zu verlassen. Seitdem versucht sie in Linz, wo auch ihre Verwandten leben, so etwas wie ein neues Zuhause zu finden.
Schock und Zäsur
Galina: „Am 24. Februar 2022 ist für mich eine Welt zusammengebrochen, es war außerhalb meines Vorstellungsvermögens, dass meine Heimat, in der ich fast mein ganzes Leben verbracht habe, ein anderes Land angreifen könnte.“
Es darf keinen Krieg geben, Hauptsache, es gibt keinen Krieg – mit dieser Art Mantra ist ihre Generation aufgewachsen. Dieser Vision, auf die sich die russische Regierung immer wieder berief, vertraute ein Großteil des Volkes. Die Gesellschaft war geprägt durch den Großen Vaterländischen Krieg, wie in Russland der Kampf der Sowjetunion gegen Hitlerdeutschland von 1941 bis 1945 bezeichnet wird. Galina hat tief daran geglaubt, dass für die pazifistisch erzogenen Kinder ihrer Generation, wie sie meinte, Krieg kein Thema mehr wäre, insofern erschüttert sie die Tatsache, dass so viele Menschen diesen Krieg gutheißen. „Für mich ist in den vergangenen Monaten vieles zerbrochen, woran ich immer geglaubt habe.“
Für Ekaterina und Alexei hingegen baute sich der Schock langsamer auf. Beide ahnten schon Wochen bis Monate vor Kriegsbeginn, dass Putin angreifen würde.
Ekaterina: „Nach der Annexion der Krim vor acht Jahren wollte ich offiziell keine Russin mehr bleiben und meine Staatsbürgerschaft ändern. Das war eine Zäsur für mich.“
Alexei: „Ich habe seit Ende des vergangenen Jahres einen möglichen Krieg befürchtet. Mein Land ist ruiniert, Russland kann man für einige Jahrzehnte abschreiben. Das waren meine ersten Gedanken.“
Kira: „Für mich war es ein Horrorgefühl, ich wollte es bis zuletzt nicht glauben, es ist wohl ein Massenphänomen, ein Festhalten an der Hoffnung gegen jede Vernunft.“
Einige ÖsterreicherInnen vertreten auch die Meinung, die Ukraine hätte sich viel an Leid erspart, wenn die Angegriffenen Luhansk und Donezk sofort abgetreten hätten, werfe ich als Außenstehende dieses Nachmittags ein. Alle vier schütteln den Kopf. Nichts hätte sich dadurch verändert, die Gebietsansprüche Putins hätten sich fortgesetzt.
Ich möchte, nachdem es sich bei diesem Text vor allem um einen subjektiven Bericht über vier in Linz lebende RussInnen handelt, auch die Atmosphäre des entsprechenden Nachmittags beschreiben.
Wir sitzen im Atelier von Ekaterina und ihrem Ehemann, dem Maler Ewald Walser, der mir auch seine Bilder zeigt, die die vergangenen Monate entstanden sind. Ekaterina arbeitet schon seit einiger Zeit kaum als Künstlerin, sie informiert sich über den Krieg, ist im Austausch mit ihren russischen Bekannten und FreundInnen, und die meiste Zeit des Tages ist der Vorbereitung der Mahlzeiten gewidmet.
An diesem Nachmittag diskutieren die vier lebhaft, manchmal sprechen zwei oder drei von ihnen auf einmal, weil der eine dem anderen widersprechen oder das Gesagte ergänzen möchte. Oft übersetzt Kira Galina, deren Deutschkenntnisse noch nicht gut genug für eine schnelle Unterhaltung sind. Ekaterina bietet zu trinken und zu essen an. Und das liefert mir das Stichwort, bevor ich weiter frage.
Ekaterina kochte, wie erwähnt, für 60 UkrainerInnen. Und das kam so: Als der Help-Point für ukrainische Flüchtlinge Anfang März dieses Jahres am Linzer Bahnhof eingerichtet wurde, meldeten sich Ekaterina und Kira als Übersetzerinnen. Ekaterina entschloss sich auch zu kochen, immer Borschtsch und meistens auch ein Hauptgericht. Sie bereitete die Mahlzeiten in ihrer eigenen Küche zu, gesponsert wurde ihr Projekt von einigen in der Stadt ansässigen Clubs. Wie haben es die UkrainerInnen aufgenommen, dass ihnen eine Russin Essen bringt? Ekaterina war berührt von der Dankbarkeit der Flüchtlinge, die kaum in Worte zu fassen ist, Nationalitäten waren nie ein Thema.
Ekaterina: „Russland und Ukraine haben schließlich eine gemeinsame Kultur.“
Mittlerweile können sich die meisten ukrainischen Flüchtlinge in einer Unterkunft selbst verpflegen.
Sanktionen
Galina: „Ich sehe das Ergebnis, nicht das Individuelle. Alles ist gerechtfertigt, wenn dadurch der Krieg aufgehalten werden kann, auch Sanktionen. Die einzelnen Schicksale stehen für mich dabei nicht im Vordergrund, sondern das Ziel, das Ganze.“
Alexei: „Wirtschaftliche Sanktionen ja, insofern als sie die Militärmaschinerie hemmen, kulturelle aber eher nein. Die russische Seele hat das Bedürfnis, geliebt zu werden. Wenn Kultur- und Sportveranstaltungen abgesagt werden, wird die Sicht der Ablehnung durch das Ausland bestätigt, was dem Regime in die Hände spielt. Die Sanktionen hätten schon viel früher einsetzen müssen, der Westen hat schließlich Jahrzehnte lang gute Geschäfte mit Russland gemacht, und damit den Putinismus wirtschaftlich gestärkt und politisch legitimiert, was das Gefühl der Ungerechtigkeit und Hilflosigkeit in den demokratischen Kreisen der russischen Gesellschaft erhöht hat – eine furchtbare Heuchelei.“
Selenskyi
Ich bin überrascht. Die Person Wolodymyr Selenskyi ist an diesem Nachmittag schnell abgehakt.
Alle vier: „Er macht seine Sache gut, schließlich ist er ein Quereinsteiger und hat sich seit Beginn des Krieges entwickelt. Natürlich sind ihm auch Fehler passiert. Die Verklärung zum Helden ist übertrieben, auch wissen wir vieles nicht, was hinter den Kulissen passiert.“
Perspektiven
Wie könnten die Perspektiven aussehen, frage ich schließlich, und plötzlich herrscht Schweigen am Tisch, was in dieser lebhaften Runde höchst selten passierte. Das war zu erwarten, stellte ich doch eine der schwierigsten Fragen überhaupt. Alexei, der vielleicht pragmatischste meiner GesprächspartnerInnen, belegt meine Frage nach der Wahrscheinlichkeit eines geballten Aufstands in Russland mit nüchternen Zahlen. Die Politikwissenschaftlerin Erica Chenoweth entdeckte das Gesetz der 3,5 Prozent. Dieser Prozentsatz gilt als magische Zahl, ab der die Politik in Alarmbereitschaft versetzt wird. In Moskau, um ein Beispiel heranzuziehen, wohnen 12 Millionen Menschen, demnach müssten mehr als 400.000 Menschen auf die Straße gehen, was höchst unwahrscheinlich ist.
Ekaterina: „Nach wie vor zählt die Obrigkeitshörigkeit in weiten Kreisen des Volkes.“
Alexei: „Die Geschichte zwischen Russland und dem Westen ist auch von Versäumnissen und politischen Fehlern des Westens gekennzeichnet. Zwischen 1995 und 2005 hätte man Russland ins europäische Boot holen können.
Vielleicht sollte der Westen jetzt ein zukunftsorientiertes positives Programm anbieten, das für die Russen attraktiver ist als die derzeitige archaische nationalistische Agenda, etwa eine Roadmap (Anm.: ein Plan für jede Art von Strategien oder Zielen) für die europäische Integration Russlands, so etwas würde in entscheidenden Großstädten gut ankommen.“
Kira: „Meine Hoffnung besteht darin, dass Putin nicht ewig lebt, was nachher passiert, ist fraglich. Optimistisch bin ich nicht.“
Und so endet dieser Nachmittag, ganz wie erwartet, mit vielen Fragezeichen und wenigen positiven Visionen: Ein Nachmittag ohne ExpertInnen, aber … Kira: „Wir stützen doch alle unsere Meinung auf Expertenanalysen.“
Als ich das Atelier von Ekaterina und Ewald verlasse, denke ich, dass ich nun mit vier RussInnen eines Landes mit 145,45 Millionen Einwohnern gesprochen und dennoch einiges erfahren habe. Vier andere und es wäre ein anderer Text geworden oder auch nicht. Ein ganzheitlicher Eindruck lässt sich nicht gewinnen. Vor einigen Wochen habe ich mich lange mit einer seit vielen Jahren in Österreich lebenden Ukrainerin unterhalten. Interessanterweise deckt sich ihre Haltung in vielen Bereichen mit jenen von Galina, Kira, Alexei und Ekaterina.
SPENDENAUFRUF
Wer Ekaterina und ihre privat organisierte Hilfe mit einer Spende unterstützen möchte, möge einen Betrag auf folgendes Konto überweisen. Verwendungszweck: Borschtsch.
Ekaterina Walser-Vassilieva
AT561200010037266516
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