Ingo Leindecker prägt seit gut fünfzehn Jahren auf vielfältige Weise die Linzer Kulturszene. Stephan Roiss befragte ihn zu seinem aktuellen Opus Magnum, dem Hörstück TODABLEITER, zum Kunstkollektiv Kompott und zur Bedeutung freier Archive und Medien.
Bereits mit 14 Jahren begann sich Ingo Leindecker bei Radio FRO zu engagieren. Es folgten eine Anstellung, die erfolgreiche Abwicklung zahlreicher Großprojekte und schließlich sogar die interimistische Geschäftsführung. Nebst der individuellen Gestaltungsfreiheit bergen die freien Medien für Leindecker wichtiges politisches Potential: „Sie fördern die freien Meinungsäußerung und demokratisieren die Medienlandschaft.“
Im Jahr 2000 entwickelte Leindecker maßgeblich das Cultural Broadcasting Archive (CBA) mit. Was zuerst nur als Austauschplattform für FRO-Sendungen fungierte, wurde bald zum Gemeinschaftsprojekt aller Freien Radios Österreichs und ist heute offenes Audioforum und Zeitarchiv zugleich. „Das CBA bildet eine breite Palette der zivilgesellschaftlichen Medienproduktion Österreichs ab. Es ist eine Sammlung von Inhalten, die kein Staatsarchiv in diesem Umfang dokumentiert.“ Aus dem Tagesgeschäft von Radio FRO hat sich Leindecker schon vor einigen Jahren zurückgezogen. Das CBA allerdings betreut er weiterhin – seit 2007 gemeinsam mit Thomas Diesenreiter. Die partizipative Konzeption von Archiven und vor allem der freie Umgang mit dem darin gespeicherten Wissen sind Leindecker ein besonderes Anliegen: „Archive machen Information – gleichzeitig aber auch medial vermittelte Geschichte – zugänglich und nutzbar. Sie unterstützen so einen individuellen Aufbau von Wissen und die Zukunft kultureller Vielfalt. Die Veränderungen von Meinungen, Diskursen und Paradigmen werden nachvollziehbar und damit auch die Gegenwart verständlicher gemacht.“ Wenig verwunderlich, dass Leindecker bei der Organisation der ARCHIVIA-Konferenzen federführend ist. Dieses Format lotet unter technischen, (urheber-)rechtlichen und gesellschaftspolitischen Gesichtspunkten den Status Quo Vadis von Online-Archiven aus. Da es auch aus Mitteln des imPULS-Topfes gefördert wurde, kann man sich noch bis 10. 6. im Salzamt einen Eindruck davon machen. Dort wird nämlich eine Auswahl von Projekten vorgestellt, die im Zeitraum von 2012–1014 durch die Sonderförderprogramme der Stadt Linz (nebst imPULS also auch EXPOrt und IMpORT) unterstützt wurden.
Und Ingo Leindecker ist in dieser Ausstellung auch noch ein zweites Mal vertreten: mit seinem Hörstück TODABLEITER. Mit dieser aufwendig produzierten Arbeit diplomierte er an der Kunstuniversität Linz. 2014 veröffentlichte er den TODABLEITER in Form eines Buches mit beigefügter Doppel-CD und präsentiert seine Publikation seither immer wieder an unterschiedlichen Orten. Bis dato zum Beispiel am Institut für Zeitgeschichte in Wien, mehrfach bereits in Linz oder erst kürzlich an der Berliner Humboldt-Universität.
Für das Stück hat Leindecker bald pulsierende, bald dröhnende Kompositionen und düstere Soundscapes angefertigt. Diese Musik stützt ein intensives, transdisziplinäres Geflecht von Stimmen. Über eine Länge von 95 Minuten hinweg bringt TODABLEITER historische Originalaufnahmen aus 1918–1945 mit jüngeren Wortbeiträgen aus recht unterschiedlichen Wissenschaftsgebieten ins Gespräch. Auf der einen Seite des Jahrhunderts sind zahlreiche Unbekannte zu hören, aber auch politische Schlüsselfiguren wie etwa Kaiser Wilhelm II oder Paul von Hindenburg und vor allem eine Reihe von nationalsozialistischen Funktionären – bis hin zu Göring, Goebbels und Hitler. Auf der anderen Seite kommen unter anderem zu Wort: der Neurobiologie Gerhard Roth, der Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick oder der Sozialpsychologe Arno Gruen. Assoziativ und schlüssig hat Leindecker die Aussagen der unterschiedlichen Sprechpositionen arrangiert, zusammengeschweißt, einander gegenübergestellt. Im vibrierenden Zwischenraum von Klang und Sprache werden schwere Themen verhandelt: der Nationalsozialismus und seine Massenpsychologie, die Sehnsucht nach Neutralisierung der Individualität und nach einer Auflösung in einem gewaltigen Gruppengefühl. Elimination der Freiheit im naturalistischen Wahn. Selbst nichts sein, bloß als Partikel eines Verbundes dienen.
Die Anordnung der zehn Kapitel des Hörstücks folgt lose einem biografischen Schema: Der Bogen spannt sich vom Motiv der Geburt über Themen wie Kindheit, Arbeitswelt und kriegerische Auseinandersetzung bis zum Tod. Der bleibt nicht aus. Der muss unfassbar bleiben. Der kann eben nicht faktisch, sondern bloß imaginär abgeleitet werden. „Jeder einzelne Tod ist ein Skandal, niemand sollte sterben müssen.“ Diese Ansicht teilt Ingo Leindecker mit Elias Canetti, der ebenfalls mehrfach im Stück zu hören ist und dessen Werk „Masse und Macht“ die theoretisch-ästhetische Grundlage für den TODABLEITER lieferte. Davon zeugt recht offenkundig der Untertitel des Hörstücks: „Überleben und Tod, Masse, Macht und Gewalt.“ Auch der Begriff „Todableiter“ ist dem eigenwilligen Wälzer Canettis entnommen. Leindecker möchte einen kleinen Beitrag dazu leisten, dass die Substanz des Werkes neu bewertet wird. Das Buch schloss bei seinem Erscheinen an keinen etablierten Diskurs an, agierte terminologisch isoliert und proto-postmodern im Graubereich von Wissenschaft und Literatur. Die Rezeptionsgeschichte verlief dementsprechend unglücklich.
„Canetti rückt die Sterblichkeit ins Zentrum und macht bewusst, welchen maßgeblichen Anteil sie an der Struktur unseres Lebens und allem Sozialen hat. Die Radikalität, mit der er das tut, fasziniert mich. Hinter jedem – auch noch so harmlosen – Befehl z. B. verbirgt sich für ihn ursprünglich eine Todesdrohung: Das Kind, dem befohlen wird, ist von den befehlenden Eltern existenziell abhängig – genauso wie der Soldat von seinen Befehlshabern eine versteckte Todesdrohung empfängt.“ Canettis Masse und Macht erschien erst 1960, entstand aber in einem Zeitraum von 25 Jahren, stark geprägt von den Erfahrungen des 2. Weltkriegs. Canetti koppelt die Begriffe „Macht“ und „Masse“ an das nackte Überleben. Die Faktizität des Todes wird als Wurzel aller Machtbedürfnisse gesetzt. Der Mensch sucht die Masse um Macht zu erhalten: primär die Macht sich selbst zu schützen und potentielle Gegner*Innen abzuwehren, sie zu überragen, in letzter Konsequenz zu vernichten. Nach Gegenwartsbezügen muss Leindecker nicht lange suchen: „Wenn ich mir z. B. die sogenannten Identitären ansehe, deren offenbar verzweifelte ProtagonistInnen bei ihren Auftritten ein Banner mit der Aufschrift „unsterblich“ vor sich hertragen, dann reicht im Sinne Canettis dieses eine Wort aus, um diese sogenannte „Bewegung“ als totalitär zu entlarven. Mit Canetti gesprochen kommuniziert sie damit den ultimativen Machtanspruch, letztlich den Wunsch nach dem Überleben aller anderen bis in alle irdische Ewigkeit. Das ursprünglich religiöse Heilsversprechen wird in dieser Variante wieder vom Jenseits ins Diesseits verschoben, was einem bekannt und gefährlich vorkommen muss.“ Desiderat der Stunde wäre somit die Einübung einer paradoxen, aber zutiefst lebensbejahenden Haltung: ein Revoltieren gegen den Tod bei gleichzeitigem Bewusstsein, dass alle Versuche den Tod tatsächlich aufzuheben zum Scheitern verurteilt sind und sich ins Wahnhafte gesteigert radikal gegen das Leben kehren.
Ingo Leindecker bedient sich in seinen künstlerischen Arbeiten vor allem der Medien „Sound“ und „Installation“. Entweder Solo oder im Kollektiv Kompott, das von Studierenden gegründet wurde, die von klassischen Ausstellungsformaten und White Cubes gelangweilt waren. Den aktuellen Kern vom Kompott bilden – nebst Leindecker selbst – Kristina Kornmüller, Petra Moser Ulrich Fohler und Thomas Kluckner. „Wir haben uns lange Zeit auf Leerstände konzentriert und sie mit eher kleinteiligen Arbeiten bespielt.“ Unter anderem führte Kompott Interventionen in einem halb eingerichteten Stundenhotel in Brüssel, einem Musterhauspark in Haid und einer still gelegten Fabrik in Lissabon durch. Das Interesse an ungenützten Räumlichkeiten ist nicht verschwunden, aber in den letzten Jahren etwas in den Hintergrund gerückt. Jüngst gestaltete man das Ortszentrum der Gemeinde Lichtenberg mit. Der entsprechende Platz wurde mit Steinen in unterschiedlichen Grautönen gepflastert, die miteinander eine Wolkenformation ergeben. „Das ganze Projekt hat weniger einen politischen, mehr einen ästhetisch-identitätsstiftenden Auftrag erfüllt. Das wurde von künstlerischer Seite auch hin und wieder kritisiert.“ Dem neuesten Kompott-Vorhaben mangelt es sicherlich nicht an politischen Konnotationen: „Inhaltlich interessieren wir uns seit mehreren Jahren für die Entwicklung Europas und besonders für die Verschiebung der Außengrenzen. Momentan arbeiten wir an einem zweiteiligen Projekt im Kosovo: Wir werden kulturell und künstlerisch aktive Personen aus dem Kosovo zu Gesprächen und Präsentationen nach Linz einladen und in Zusammenarbeit mit KünstlerInnen von dort dann eine Gemeinschaftsarbeit in Priština realisieren.“
Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Der Wolf ist ein Rudeltier.
Zweifacher Bezug zur Ausstellung LinzImPULS, LinzIMpORT, LinzEXPOrt: Ingo Leindecker ist dort mit TODABLEITER vertreten, ebenso ist das hier besprochene Radio FRO-Projekt ARCHIVIA zu sehen. Salzamt Linz, noch bis 10. 06. 2016
Präsentation „TODABLEITER“: Freies Theater Innsbruck, 1. 10. 2016