Ende Juni eröffnet die 30. Ausgabe des Festivals der Regionen. Mit dem diesjährigen Titel Höchste Eisenbahn entfaltet sich das Festival entlang der Summerauer Bahnstrecke – und es stehen Zukunfstfragen im Fokus. Georg Wilbertz gibt Einblicke in einige Vorhaben und beginnt mit Heinrich Heine, dem Jahr 1843 und der erschütternden technischen Revolution der Eisenbahn an sich.
„Die Eröffnung der beiden neuen Eisenbahnen […] verursacht hier eine Erschütterung, die jeder mitempfindet, wenn er nicht auf einem sozialen Isolierschemel steht. […] Während aber die große Menge verdutzt und betäubt die äußere Erscheinung der großen Bewegungsmächte anstarrt, erfaßt den Denker ein unheimliches Grauen, wie wir es immer empfinden, wenn das Ungeheuerste, das Unerhörteste geschieht, dessen Folgen unabsehbar und unberechenbar sind. Wir merken bloß, daß unsre ganze Existenz in neue Gleise fortgerissen, fortgeschleudert wird, daß neue Verhältnisse, Freuden und Drangsale uns erwarten, und das Unbekannte übt seinen schauerlichen Reiz, verlockend und zugleich beängstigend. […] Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig.“
Als Heinrich Heine (1797–1856) im zweiten Teil seines Pariser Journals Lutetia (Artikel LVII, Paris, 5. Mai 1843) die Erschütterung beschreibt, die ihn angesichts zweier neuer Eisenbahnlinien ergriff, konnte er nicht ahnen, dass seine Prognose, die Folgen seien „unabsehbar und unberechenbar“, sich in unserer Gegenwart mehr als erfüllen sollte. 1843 steht Kontinentaleuropa an der Schwelle zur einsetzenden ersten hochindustriellen Phase, deren negative wirtschaftliche, soziale und vor allem ökologische Folgen gegenwärtig katastrophale Wirkungen entfalten. Exakt 180 Jahre nach der Niederschrift manifestieren sich die teilweise katastrophalen Folgen einer ungehemmten, bis heute weitestgehend unregulierten ökonomischen Nutzung aller nur denkbaren Ressourcen unter dem Stichwort Klimakrise. Heines Haltung ist ambivalent. Er hegt durchaus eine gewisse Faszination angesichts der scheinbar unbegrenzten Potentiale, die die neue Technologie (1825 wurde in England die erste öffentliche Eisenbahnstrecke eröffnet) mit sich bringt. Ihm ist allerdings ebenso bewusst, dass neue, beängstigende „Drangsale“ von dieser epochalen Technologieentwicklung zu erwarten sind. Heute ist es allerdings nicht mehr die gute, alte Eisenbahn, die die größten Probleme verursacht. Sie wäre inzwischen – endlich ernst genommen – sogar ein wichtiger Teil der Lösung. Doch solange hiesige Regierungschefs in staatstragend inszenierten Lage-der-Nation-Analysen durchblicken lassen, dass das eigentliche Problem nicht sinnfreie SUVs, sondern eher die Rücksichtnahmen auf Radfahrer*innen sind, dürfte der Weg noch lang sein.
Einen langen, inzwischen 30 Jahre währenden Weg hat auch das biennal durchgeführte Festival der Regionen (FdR) hinter sich. In seiner heuer stattfindenden 16. Auflage nutzt das Festival den dynamischen Elan, den man inzwischen mit dem positiv besetzten Fortbewegungsmittel Eisenbahn verbindet, um daraus optimistische, lösungsorientierte Events, Diskussionen und Veranstaltungen zu generieren. Dies alles unter dem vielfältig deutbaren Titel „Höchste Eisenbahn“. Und tatsächlich wird das FdR 2023 auf Schiene gesetzt, indem es die Strecke der legendären Summerauerbahn, die von Süden nach Norden durch das Mühlviertel führt, zum landschaftlich und kulturell reizvollen Rückgrat des am 23. Juni beginnenden Festivals macht. Die Idee ist genauso einfach wie genial: entlang der Bahnstrecke lassen sich in und bei historisch und kulturell bedeutenden Orten nicht nur unterschiedliche Formate und Aktivitäten verorten. Sie sind darüber hinaus ökologisch korrekt durch die Bahnstrecke miteinander verbunden und einfach erreichbar. Auf oberösterreichischer Seite sind u. a. Steyregg, Lungitz, Kefermarkt, Freistadt und Summerau Austragungsorte von „Höchste Eisenbahn“. Durch den kleinen „Hüpfer“ zum Grenzbahnhof Horní Dvoriste gelingt zudem der Sprung nach Tschechien, wodurch das FdR sogar, wie schon 1993, grenzüberschreitend („international“) wird.
Entsprechend der Unterschiedlichkeit der Orte und Landschaften, durch die die Festivalstrecke verläuft, sind auch die Themen und Ziele der über 30 Programmpunkte äußerst vielfältig. Im Zentrum stehen, wie sollte es anders sein, Umweltfragen, Klimakrise, Geschichtsbewusstsein, Aspekte regionaler und überregionaler Identität und das Thema zeitgemäße Mobilität. Und wie immer hat sich auch das FdR 2023 eine große Nähe zur regionalen und örtlichen Bevölkerung und deren Einbindung innerhalb des Festivalgeschehens zum Ziel gesetzt. Entsprechend groß ist Zahl der Mitmach- und Diskursformate, die möglichst niederschwellig zur Beteiligung einladen. Mit dieser konsequent umgesetzten Strategie unterscheidet sich das FdR wohltuend von manch anderem Festivalzirkus, bei dem die Akteure ihre gut eingespielten Projekte quasi im Vorübergehen dem Publikum vor die Füße werfen, um dann eilig dem nächsten Event entgegen zu eilen. Die Frage „Was bleibt“ bleibt natürlich immer. Da das FdR sich aber bezogen auf ein aktuelles, breit aufgefächertes Themenspektrum vor allem als Impulsgeber und Anreger versteht, dürfte sich auch 2023 ein gewisser, durchaus nachhaltiger Erfolg einstellen.
Zum Zeitpunkt, als dieser Beitrag entsteht, haben die performativen, zu inszenierenden und partizipatorischen Veranstaltungen naturgemäß noch nicht stattgefunden. Es ist schwer, über programmatische Absichtserklärungen zu schreiben, weshalb hier nur kurz auf die – im Verhältnis – eher wenigen physisch greifbaren Projekte eingegangen werden soll.
Wir beginnen sozusagen global. Etwas wie Grenzüberschreitung im Regionalen scheint für die Grundhaltung eines Formates wie das FdR wesentliche Komponente zu sein: So bietet die von Rayyane Tabet bereits mehrfach an anderen Orten gezeigte Installation „Steel Rings“ weniger regionalbezogenes, eher assoziatives Potential. Symbolhaft beziehen sich die auf einer Länge von 20 Metern in Steyregg gezeigten Stahlringe auf die Pipeline der Trans-Arabian Pipeline Company, die als bisher einziges Bauwerk die Grenzen zwischen Saudi-Arabien, Jordanien, Syrien und Libanon bis zum Mittelmeer überschritt. In einer konfliktgebeutelten Region, die dringend anderer verbindender Elemente bedürfte, ist es ausgerechnet und ausschließlich ein ökonomisches Infrastrukturprojekt, das weiträumig Grenzen überwindet.
Auf ironische Weise befassen sich zwei installative Arbeiten mit dem Themenfeld Verkehr und Mobilität. Klara Paterok und Markus Hiesleitner konfrontieren in ihrer Installation „Kollektives Warten in Extremwetterlage“ am Bahnhof Steyregg die reale Bahntrasse mit einer Reihe aus Weiden geflochtener Auto-Mockups. Diese sind nicht nur aus Naturmaterial und im Wortsinn hohl. Sie sind zudem völlig unbeweglich. Fährt ein Zug vorbei, bewegen sich bunte Stofffähnchen, die an den Weidenästen befestigt werden, melancholisch im Fahrtwind. Ein letzter Abgesang auf die vielfach verehrte Dynamik des automobilen Verkehrs. Noch eindeutiger mit dem Motiv des Staus und Stillstands operiert Francois Davin bei seiner in Summerau aufgestellten Arbeit „Es war einmal ein sehr alter Stau“. Historische Kutschen, Schlitten etc., die in einer langen Reihe aufgestellt werden, erinnern nicht nur an frühere Verkehrsmittel (Stichwort Pferdeeisenbahn). Davin ironisiert auch das Motiv des permanenten Staus, der längst zu einem Signum unserer auf andauernde Fortbewegung fixierten Gegenwart geworden ist. Pferdkutschen standen nur selten im Stau.
Regionalspezifische Geschichte steht bei den Arbeiten von Martin Lasinger sowie von Antoine Turillon und Seth Weiner im Vordergrund. Lasingers „Zug/Ende[gut]“ nimmt das Motiv des Eisenbahnwagens als metaphorisches Zeichen für die Deportationen der NS-Zeit auf, um am Bahnhof Gaisbach-Wartberg an die Vernichtungsmaschinerie der Nazis zu erinnern. Lasingers Waggon ist nach 3 Metern abgeschnitten. Nur eine Sitzreihe ist übrig, die den erinnernden Blick zurück auf die nicht mehr genutzte Bahnlinie ermöglicht. Auch über diese vergessene Trasse rollten Menschen der Vernichtung entgegen. Radikaler agiert das Projekt „Giveaway/Hideaway“ von Turillon und Weiner. Sie schotten durch Fassadeninterventionen das Bahnhofsgebäude von Lungitz hermetisch nach außen ab. Objekte im Inneren verbinden die abgesonderten Räume mit der Geschichte von Lugnitz, das sich in unmittelbarer Nähe zum Konzentrationslager Lugnitz-Gusen III befand. Die Abgeschlossenheit des Gebäudes schafft nicht nur eine beklemmende Atmosphäre, sondern wird auch im übertragenen Sinn zum Symbol für Ausschluss und Isolation.
Einen geradezu dystopischen Charakter dürfte das 60 Meter lange „Baugerüst“ von Pia Mayrwöger besitzen. Es wird völlig frei, ohne jede nachvollziehbare Funktion bei Kefermarkt als Barriere in die Landschaft gestellt. Dominanz und Fragilität gehen eine bedrückende Verbindung ein. Zudem gerät das Baugerüst auf der einen Seite in bedrohliche Bewegung. Es neigt und verdreht sich, kommt letztlich zum Fall. Die Dekonstruktion dieses im Alltag eigentlich produktiv und konstruktiv notwendigen Objekts kann als unmittelbare Kritik am Fetisch permanenter Produktion gelesen werden. Sie stellt sich im Zusammenbrechen selbst in Frage und verliert in idyllischer Landschaft jeglichen Sinn.
Einen auf den ersten Blick spielerischen Zugang verfolgt Tom Bogaert in seinem Beitrag „Organ/Orgel“ in der Pfarrkirche Kefermarkt. Diese zählt aufgrund des berühmten Altars und der intensiven Beschäftigung Adalbert Stifters mit diesem zum Kanon der oberösterreichischen Hochkultur. Bogaert stellt der tradierten Aura des Raums eine grelle Plastik aus Plastik entgegen. Schrille, bunte Aufblasobjekte wie Schwimmreifen, Luftmatratzen etc. werden gesammelt und in schlaffem Zustand zu einer plastischen Installation aufgetürmt. Nicht nur durch ihre Materialität und Anmutung, sondern auch durch den absurden ästhetischen Kontrast gelingt es dem Künstler, auf spielerische Weise Brüche und Paradoxien unserer Gegenwart in einem theatralischen Bild zu verdichten.
Eine poetische, sehr unmittelbare Verbindung mit der Region und ihren Menschen schafft Mika Satomi in ihrer Arbeit „Indigo Hyphae“. In der Zeugfärberei Gutau werden Stoffe, die von den Besucher*innen mitgebracht werden, im Blaudruckverfahren mit Landschaftsmotiven versehen. Diese können dann mitgenommen und an einem beliebigen Ort der Region sichtbar aufgehängt werden. Satomi verbindet dabei nicht nur verschiedene Kulturen und technische Verfahren zu einer Einheit. Durch den Transport und die Verbreitung der Motive durchdringen und überlagern sich verschiedene Orte und Landschaften.
Das mehrköpfige Team des FdR 2023 verbindet mit dem Titel „Höchste Eisenbahn“ einen optimistischen Ansatz. Beherzigt man diesen, ist es vielleicht noch nicht zu spät für die dringend notwendigen Maßnahmen zur Lösung der inzwischen global grassierenden Probleme und Krisen. Welche Seite aus Heines dialektischer Reflektion über die Eisenbahn letztlich die Oberhand gewinnen wird, ist noch nicht abschließend geklärt. Es gibt allerdings momentan wenig Grund zur Hoffnung. Und ja, übrigens Herr Bundeskanzler: Radfahren ist wirklich nicht das Problem.
Festival der Regionen 2023: Höchste Eisenbahn
23. Juni – 2. Juli 2023
Die 30. Ausgabe des Festivals der Regionen findet entlang der Summerauerbahn statt. Unter dem Motto „Höchste Eisenbahn“ stehen aktuelle Zukunftsfragen im Fokus der künstlerischen Auseinandersetzung – von Klimakatastrophe bis zum gesellschaftlichen Miteinander. Alle Projekte und Infos unter: fdr.at