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Augen hören besser

By   /  1. März 2024  /  No Comments

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Einen tiefen Einblick in das weit verästelte, zeitgenössische Gigposter-Schaffen bietet die jährlich erscheinende Buch-Serie The Raw Stuff. Fresh outta OÖ sind darin nicht nur Gigposter auszumachen, sondern ein ganzes Universum an Gestaltungsmethoden. Christian Wellmann über unerwünschte Kategorisierungen, das aktuelle Buch TRS#3 und die Präsentation am 15. März in der KAPU.

Foto aplacefortom

Die Welt der Gigposter hat eine lange Historie, beginnend mit der alternativen US-Musikbewegung, rund um Hippie-Epigonen wie Grateful Dead oder Jimi Hendrix. Designer wie Rick Griffin oder Stanley Mouse gaben der psychedelischen Ära den grellen Anstrich. Zumeist in Head-Shops gekaufte, ikonische Gegenkultur-Manifeste für die Wand zu Hause, das visuelle Gegenstück zu in LSD getauchte Räucherstäbchen. In den 1980er-Jahren bildete sich die sogenannte „Modern Era“: Frank Kozik oder Raymond Pettibon entsorgten mit ihren Comic/Punk-Attacken die Altvorderen, parallel zu den Revolutionen in der Musik.
Seitdem explodiert diese Subkultur weltweit, es gehört sozusagen zum guten Ton (besonders für Bands im Gitarrenbereich) ein flashiges Plakat – als Unikat! – im Repertoire zu haben. Alles ist natürlich vielfältiger geworden, so findet man neben Siebdrucken auch Linolschnitte, Riso, Offset, Kunstdrucke, etc. Vor einigen Jahren war das eher auf Siebdruck-Poster beschränkt, wobei sich die internationalen Szenen sehr voneinander unterscheiden. In Österreich ist DIY am Drücker.

Rohe Power
Einen tiefen Einblick in das weit verästelte, zeitgenössische Gigposter-Schaffen bietet die jährlich erscheinende, aktuell bei der dritten Ausgabe angelangte Buch-Serie The Raw Stuff (TRS). Heavy-Musik-Artworks der grafischen Underground-Kultur aus Europa und Österreich. Die Bandbreite reicht von Punk, Pop, Metal, Rock bis zu Arbeiten für Depeche Mode, Iggy Pop oder Elton John (TRS #2) und zeugt von einer kontrastreichen Diversität. Von Proberaum- zu Stadionbands. Von Linz nach LA.
Fresh outta OÖ sind darin aber nicht nur Gigposter auszumachen, sondern ein ganzes Universum an Gestaltungsmethoden: Vinyl- und Tape-Artworks, T-Shirt-Design, Street Art, Tattoos, Filmposter, Skateboards, Buchdesign, Bierlabels etc. Kategorisierungen unerwünscht. Vollgekramte 280 Seiten mit 413 Artworks aus 12 europäischen Länder mit mehr als 210 Bands auf Hochglanzpapier – und mit 600 Gramm wahrlich ein ziemlicher Brocken. Das durchgehend zweisprachige Kompendium (deutsch/englisch) präsentiert eine fokussierte Übersicht dieser Vielfalt und ist eine Plattform für die Stilfülle.

Das selbstverlegte Herzblut-Projekt des von Marchtrenk aus operierenden Herausgebers und Illustrators aplacefortom aka Tom Gasperlmair ist hauptsächlich eine One-Man-Show, mit Input von Helfer:innen. Er wählt aus, kontaktiert, interviewt, gestaltet, networkt, textet. Und was ihm besonders wichtig ist: er vermittelt untereinander – zum Beispiel wer/wo Siebdrucken kann, welche Band ein Cover braucht oder was bei einer größeren Band eigentlich verlangt werden kann. Es geht um eine Gesamtdarstellung der Mitwirkenden und das Vernetzen von vielfältig kreativen Menschen. Um Zwischenmenschliches, Kooperationen, die lokale Szene unterstützen und Musik, die ihn bewegt. Und um damit eine dynamische Leinwand für diese Kreativität zu schaffen. Es ist ein Projekt, das sich seit dem Beginn einfach organisch (weiter)entwickelt hat – eine ständige Steigerung ist klar erkennbar.
„Im Buch sind nur Leute, die auch kontinuierlich etwas veröffentlichen, relevant für die Musikszene sind und etwas Besonderes machen“, beschreibt Gasperlmair seine Mission, die für ihn besten europäischen Alternative-Art-Artists zusammenzubringen. „Mit jedem Release versuche ich, ein bisschen über den Tellerrand hinauszublicken und ein Auge auf musikverwandte Szenen wie Tätowieren, Street Art oder alternative Illustration zu werfen.“ Die Selektion folgt keinen strikten Kriterien. Ziel ist es, Artists zu zeigen, die für Bands hochqualitativ im eigenen Stil arbeiten. „Inzwischen kennen sich alle im Buch vorkommenden Künstler:innen auch untereinander – viele auch persönlich, aufgrund der Ausstellungen. Im Grunde probiere ich, eine Art von Darstellungsfläche für die Involvierten zu schaffen“, konkretisiert der Herausgeber.
TRS erscheint im Eigenverlag und ist nicht im Handel erhältlich, nur via Webshop und bei Präsentationen, außerdem haben die Mitwirkenden ein Kontingent zum Verkaufen. Das Projekt soll persönlich und unabhängig bleiben, ohne Werbung, Sponsor oder Fremdfinanzierung.

Das ist kein Buch!?
„Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob es ein Buch oder ein Katalog ist. Irgendwie mitten drinnen und eine Darstellung von der Zusammenarbeit der gesamten Szene – etwas Übergreifendes“, grübelt Gasperlmair. Ein Deluxe-Fanzine für Musiknerds und an unabhängiger, visueller Kunst Interessierten, vielleicht. Oder gar ein (zu dick geratenes) Indie-Kunst-Magazin?
Es finden sich darin nur offiziell abgesegnete Werke aus mehreren Jahren, die exklusiv für die Locations oder die Bands entstanden sind, die Rechte bleiben beim (visuellen) Artist. Also keine Fan-Art. Es geht um das Gefühl, das die Illustrierenden in die Musik/Bands übertragen. Also darum, die visuelle Seite der Musik sichtbar zu machen. Die Liebe zur Kunst mit Musik fusionieren. So spricht beispielsweise AMMO in TRS #3 davon, ein visueller Übersetzer zu sein.
Grafisch ansprechend ist, dass oft Ausschnitte von Details verwendet werden, auch weil das Format klein und handlich gehalten wurde, als Kompromiss, um günstig zu bleiben. Zusätzlich gibt es Hintergrundinfos, Interviews, im hinteren Teil einen Rückblick auf das aktuelle Schaffen von bisherigen Artists oder die letzte Seite, die mit Fake-Anzeigen die ganze Chose gediegen abrundet. Wie in so ziemlich allen Anthologien (zu welchen Themen oder Bereiche auch immer) gibt es einiges, das interessiert, manches weniger – im besten Fall wird man über seine eigenen Grenzen hinweg informiert, optimalerweise inspiriert. So findet man etwa vom Street-Art-Meister Nychos sogar ein Gigposter oder vom Poster-King Michael Hacker ein Kapitel rein über Bier (TRS #1).
Ungefähr ein Drittel der aktuellen Ausgabe nehmen Frauen ein. TRS will sich weiter vom Klischee lösen, dass mehr Männer wie Frauen in diesem Genre tätig sind. „Die Wahrheit ist, dass der Rockbereich eher eine Männerdomäne ist. Mittlerweile nicht mehr ganz so, der Frauenanteil wird immer mehr – auch im Buch“, verspricht Gasperlmair. Die nächste Veröffentlichung dürfte variieren und ein „Spinoff“ werden, eine Spezialausgabe. Das ursprüngliche Konzept wird aber weitergeführt, mit Nummer Vier in nächster Zeit – in welche Richtung das alles laufen wird, bleibt aber offen.

Im Auge des Lockdowns
aplacefortom aka Tom Gasperlmair arbeitet als Illustrator für nationale (u. a. Heckspoiler) und internationale Bands (u. a. die Grammy-Gewinner Gojira) und Labels (Sony, Warner etc.). Seine Arbeiten sind grundsätzlich in Tusche handgemalt und mit dem Computer koloriert. Es geht ihm um originelle Arbeiten mit innovativen Konzepten. Außerdem ist er Veranstalter, Koordinator und eben The Raw Stuff-Herausgeber – alle Cover sind von ihm, mit dem markanten Augapfel als variable Klammer.
Grundsätzlich im Grafik-Design tätig, startete er vom Großraum Wels Projekte, war anfangs auch in Bands aktiv – All Falls Down (Death Metal) und Orphan (Punk). „Ich war der, der in der Band die ganzen Poster gemacht hat. Dann haben auch befreundete Bands nachgefragt, ob ich auch was für sie machen kann. Nebenbei habe ich Tattoo-Vorlagen und Plakate gemacht – schließlich 2013 das erste Gigposter. Das hat sich alles so gut entwickelt, dass ich aplacefortom gegründet habe und seither selbständig Illustrationen anfertige.“ Momentan bleibt ihm keine Zeit zum Musikmachen, weil „wenn ich etwas mache, dann nur gscheid und intensiv!“
Konsequent ist auch die TRS-Gründungsgeschichte: „Im ersten Corona-Lockdown bin ich draufgekommen, dass Leute in meinem Bereich ziemlich brachliegen und Angst haben, wie es weitergeht. Das Thema Buch habe ich schon länger im Kopf gehabt, aber dazu nie ein griffiges Thema gehabt. Daher hat sich das angeboten, gemeinsam ein Buch mit der österreichischen Szene zu machen. Anfangs einfach als Versuch, zunächst mit einer kleinen Auflage, die dann bereits nach einem Tag ausverkauft war. Danach nachgedruckt, das Feedback war sensationell.“ Er hat nie die Absicht gehabt, eine Serie von Büchern zu diesem Thema zu machen, aber nach sehr viel Unterstützung von österreichischen Indie-Big-Playern, von SLAM, FM4 bis zur Arena, die nach einer Ausstellungs-Kooperation gefragt hat, genauso wie die KAPU, hat sich The Raw Stuff als folgerichtiger Weg herausgestellt.

Präsentiert wird TRS #3 wieder im bewährten Rahmen von Ausstellungen und Konzerten, bei denen ausgewählte Künstler:innen und im Buch vorkommende Bands am Start sind. Es können natürlich auch Poster erworben werden. Unter anderem am 15. März mit Black Rainbows, Lupus und Swanmay in der KAPU. Wie immer gibt es, für die zum Beispiel extra aus Andorra oder Polen Anreisenden, keine Standgebühr. Die Ausstellungen werden gut angenommen und besucht. „Das macht Sinn und pusht weiterzumachen“, so Gasperlmair, der auch an einer neuen Ausstellung für die Wiener Arena arbeitet, genauso an einer Coop mit der Postgarage in Graz. Außerdem vermittelt er Illustrato­r:in­nen, die dann zusätzlich für die KAPU und Arena Plakate gestalten.

 

www.therawstuff.at
aplacefortom.com

 

THE RAW STUFF ON TOUR
Exhibition + Black Rainbows (it), Lupus, Swanmay
KAPU, Fr. 15. März 2024, 19:00 Uhr
Die erste THE RAW STUFF Ausstellung 2024 startet als Opening Event des Next Comic Festivals.
Ausstellung & Market sind gratis, fürs Konzert mit Black Rainbows, Lupus und Swanmay ist ein Ticket erforderlich.

Mehr und alle Infos: kapu.or.at

Im Rahmen von:
nextcomic-Festival 2024
15.–23. März 2024
nextcomic.org

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About the author

schreibt, Sachen wie diese. Ist DJ und beschäftigt sich eingehend mit Comics.

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