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Im Möglichkeitsraum der Fantasie

By   /  1. März 2024  /  No Comments

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Lisa Spalt bändigt in ihrem zuletzt erschienen Buch Grüne Hydra von Calembour den Überfluss an schierer Information mit dichterischer Fantasie, deren sprachliche Volten und Spiele niemals durch Machine Learning erreichbar wären, meint Thomas Raab. Er formuliert einige Hypothesen über den technik- und kapitalismus­kritischen Generalbass, der im Buch schwingt.

Einige Hypothesen …
Am Anfang stehen Anforderungen. Anforderungsprofile gar. Das schreibende Ich muss sich (es) beweisen. Aber was? Dass man noch Autorin ist, dass man noch da ist, dass man trotz allem, trotz fortschreitender Endlosdifferenzierung in Nischen bei gleichzeitiger Monopolisierung eines Konsens der Mächtigen wenigstens sich selbst etwas zu sagen und, daher, zu schreiben hat?

„Ja, bitte greifen sie beherzt nach meinen kostengünstigen Plattitüden! Traditionell mundgeblasene Binsenweisheiten bieten uns eine Ebene, auf der wir alle gut stehen können. Darauf deutet schon der lateinische Name der Binse hin: Juncus stammt vom lateinischen iungere, und das heißt verbinden.“ (S. 87)

In 45 Abschnitten, teils in Prosa, teils als gedichtartige Einschübe, garniert mit stilsicheren Montagen historischer Bilder, verbindet Lisa Spalts Grüne Hydra von Calembour disparate Dinge aus dem Meer und Mehr an Information. Man darf vermuten, dass es sich dabei um jenen Müllhaufen handelt, den wir so optimistisch „Internet“ nennen. Jede Information (und ihr Gegenteil) scheint verfügbar. Aber wie die gefundene Information ordnen? Zu welchem Thema? Der in Linz lebenden und 1970 geborenen Autorin gelingt es, mit zwei formalen Vorgaben, deren Schlüssel sich im Buchtitel finden, sich selbst und ihre Reaktion auf das alles zu einem Thema zu machen, das auch über uns alle etwas sagt, weil wir uns täglich in einer ähnlichen Situation befinden.

„Aktionen auf den Müllhalden der Geschichte wurden Performern wie mir nun zum großen Geschäft.“ (S. 30)

Die grüne Hydra ist bezeichnenderweise ein Nesseltier des Süßwassers. Sie ist sesshaft und lebt symbiontisch mit ihren inneren Algen, auch, wenn man will, in Aquarien. „Unverdauliches wird von der Hydra durch die Mundöffnung gleich wieder ausgeschieden.“ (S. 41) Das Wort Hydra bezeichnet in der griechischen Mythologie zugleich ein vielköpfiges Ungeheuer, die jeden Kopf, der ihr abgeschlagen wird, mit zwei neu nachwachsenden ersetzt. Immer wieder schauen daher im Text neben allerlei Getier und Gepflanz’ auch Odysseus, Laokoon, Zeus oder Herkules vorbei.

„Er arbeitet als Masseur im rumänischen Bāile Herculane, hält Schlangen als Haustiere, lungert tagsüber unter einer der billigen Plastikliegen aus der Gartenparadiesabteilung herum und predigt dabei von einer undeutlich definierten Aufgabe, bei der es, wie er sagt, um Leben und Tod geht: die Bestie zur Aufgabe zu zwingen, die Aufgabe meistern, so ungefähr.“ (S. 65)

Wieder sind wir bei den Anforderungen der postindustriellen Welt (für die meisten im Westen), durch die wir uns auf unseren Smartphones wischen. Die Hydra als formveränderliches Doppelwesen Tier und Mythengestalt, dient der Autorin als ordnende Allegorie. Diese bietet, wie die Autorin in einem vorangestellten Motto zu Virginia Woolf und in einer „Tragtaschentheorie der Belletristik“ andeutet, „nachwachsende Hohlformen“ für zuweilen witzige Gedankenketten. Aber was ist mit dem „Calembour“ im Titel? Ich musste im Wörterbuch nachschlagen. Es handelt sich um das veraltete französische Lehnwort für den „Kalauer“, also den flachen Witz, der meist auf Mehrfachbedeutungen von Wörter oder eben Binsenweisheiten, oberflächlichen Verbindungen, beruht.

»Manna« riefen sie. Es klang wie Money. Bald verwechselten sie Bugs mit Bucks und sprachen in den höchsten Tönen vom Flohmarkt.“ (S. 23)

Solcherart Wortwitze sind ein ambivalentes literarisches Mittel, gewähren sie doch manchmal, wie schon Freud in seinem Buch Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten 1905 schrieb, trotz ihrer Flachheit unerwartete und inspirierende Einsichten, die über das lustvolle Lachen als bloße Entspannung, weil ein Wort für zwei Dinge in der Ökonomie unseres Denkens so sparsam ist, hinausgehen. Gleichzeitig mit dieser Lust schämt man sich dennoch gerade wegen der Oberflächlichkeit der Assoziation. Literatur ist auch ein Gefäß für Scham.

„»He, wer sind Sie? Wie können Sie zu uns sprechen, wenn die Menschheit vor Scham im Boden versunken ist?«“ (S. 151)

Solche Hypothesen legen nahe, dass es sich bei Grüne Hydra von Calembour um ein metafiktionales Werk handelt, in dem seine Autorin die Lesenden auf eine Schnitzeljagd zu literaturgeschichtlichen und persönlichen Schreibmotiven einlädt. Das Buch als Rätsel. Die häufige Beschreibung von „Märkten“, sei es ein Garten-, Bau- oder Flohmarkt, aber auch im wirtschaftswissenschaftlichen Sinn, lässt durchblicken, dass hinter den Metaphern und Wortspielen ein kapitalismuskritischer Generalbass schwingt.

„Ich kann nicht sagen, ob es die linke oder die rechte unsichtbare Hand des Marktes war, welches dieses Maß zum Gesetz erhoben hat.“ (S. 81)

Besonders sticht mir ein Abschnitt mit dem Titel „Aufbau“ hervor. In ihm wird eine artifizielle feministische Kleinutopie samt Schwestern und Bademeisterinnen beschrieben, in der die hierarchische Ordnung „verflacht“ wurde. Doch auch diese Utopie scheint marktförmig – „Der Plan des Marktes ist der meines Gehirns“ (S. 78) – und kann mangels übergeordneter Utopien nicht revolutionär werden. Im Anhang des Buches erfahren wir passend, dass sich Spalt von privaten Utopien anregen ließ, deren Beschreibungen sie und Otto Saxinger, ihr Mitarbeiter am „Institut für poetische Alltagsverbesserung“, das auch als Mitautor angeführt wird, in Österreich, Deutschland und Rumänien erfragten.

„Welche Revolution können Turbodünger und Thermo-King in Gang setzen? Speziell die letztgenannten Objekte erscheinen mir zuweilen wie nicht ganz echt.“ (S. 79f.)

Eine weitere Lesart des Buches könnte technikkritisch sein. Denn selbst flache Assoziationen sind Assoziationen, wie gesagt, echte Denkleistungen, die beispielsweise ein Textgenerierungsprogramm nach Prinzipien des Machine Learning nicht liefert. Deren neueste Generation bezieht in ihre Wortfolgenstatistik zwar weit im „Trainingskorpus“ entfernte Worte mit ein, doch diese irreführend „Kontext“ genannte Funktion, kann nicht, wie Spalt es vorexerziert, über lange Strecken eine, noch dazu mehrdeutige Metapher wie die Hydra, geschweige denn Ironie, von der es im Buch nur so wimmelt, durchhalten. Die „KI“ bleibt selbst, wenn sie Witze ausgibt, bierernst, weil ihr im Guten wie im Schlechten der Kontext menschlicher Ziele fehlt. Deren Widersprüchlichkeit ist es letztlich, die uns Doppelbedeutungen und Wortspiele im krassen Gegensatz zu „KI“ so umstandslos erkennen lässt.

Diesen Kontext stellt bei Spalt eben ihr widerborstiges und widersprüchliches lyrisches Ich her, das sämtliche Tendenzen ihrer Witze, ob flach oder tief, zu einer technik- und kapitalismuskritischen Parodie bündelt. Dieses Ich sorgt auch dafür, dass die Wortassoziationen nicht so ausfasern, dass man trotz der Ablenkungen beim Lesen den Gesamtzusammenhang nie völlig verliert und diesen mit eigenen Einfällen verbindet. Es ist ein Buch über die Existenz einer Autorin, die recherchiert, schreibt, feilt, sich erfreut, in einem Marktumfeld, dass dem Ich-Zusammenhang durch Zurverfügungstellung fertiger Bild- und Textkonserven ständig entgegenwirkt. Kurz, es ist ein Buch, dessen fahrige und doch konsistente Tonart wir alle aus dem Alltag kennen.

„In der Tierwelt meines Komplexes stelle ich Natur-Imitate aus Polyesterharz vor, deren Länge jeweils genau sieben Zentimeter beträgt, außer in den seltenen Fällen, in denen eine Gussnaht nicht exakt abgeschliffen wurde.“

Lisa Spalt ist eine Schlitzohry und antwortet auf den history overload von Internet und Machine Learning nicht mit der Spiegelung seiner Flachheit oder der immer gleichen Sozialkritik, sondern durch eine Ordnung, die in ihrem lyrischen Ich zusammenläuft. Sie wühlt sich durch das Material von Legenden, Mythen und Wissenschaft um uns zu sagen, dass wir beim Thema des eigenen Ich, bei unseren genuin gewachsenen Interessen bleiben und von dort aus im Wust der Information tiefer graben sollen.

„Meine Word Studies werden die Wissenschaft der Zukunft sein, aber langsam muss ich doch draufkommen, wie ich meine Wortwissenschaften so weit entwickeln kann, dass ich das Wording am Ende auch zu worlden vermag.“ (S. 117)

Ich weiß jedenfalls von keinem längeren Prosabuch seit Georges Perec, das wie Lisa Spalts Grüne Hydra von Calembour, dem Wortwitz, in seinen banalen wie tiefergründigen Andeutungen, so konsequent und lustvoll nachspürt. Um sich in ihrem dichten Geflecht aus Kalauern und Seitenhieben zurechtzufinden, schaden auch Synonym-, Herkunftswörterbuch und Thesaurus nicht.

Natürlich, ich weiß, nur Hypothesen … Doch diese sind es, die uns eben nicht geschenkt werden, die wir nicht im Internet gratis bekommen. Sie sind es, die uns ins Wirrwarr von Daten, Informationen und bürokratischen Anforderungen eine Ordnung bringen, mit der wir leben können. Auch wenn diese Ordnung im Augenblick – und das begreife ich als Fortschritt – nicht universell sein kann und wie in diesem Buch verhandelt werden muss.

Spalts Buch, das zu ihrem bereits umfangreichen literarischen und performativen Gesamtwerk beiträgt, für das sie 2022 mit dem Veza-Canetti-Preis der Stadt Wien ausgezeichnet wurde, ist ein mimetischer Take auf die Schwierigkeit der Sinnsuche in einem Umfeld, in dem jede Theorie und ihr Gegenteil, jede Meinung und ihr Gegenteil, jede Tatsache und ihr Gegenteil bereits argumentiert sind und backfertig zur Verfügung stehen. Zugleich ist es ein antiautoritäres Buch gegen jede Erziehungskunst, gegen Erziehungsjournalismus und Erziehungsliteratur.

Ja, wir haben tolle Helferleins wie Suchmaschinen, Plattformen und KI. Aber was wir suchen, können sie uns nicht sagen. Dazu müssen wir uns in den Möglichkeitsraum unserer Fantasie wagen.

 

Lisa Spalt, Grüne Hydra von Calembour (Wien: Czernin 2023, 166 S.)

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About the author

(*1968 in Graz) lebt als freier Schriftsteller mit naturwissenschaftlichem Hintergrund in Wien. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Prosadichtung, Kunsttheorie, Selbstbeobachtung und Affektpsychologie. Zuletzt erschien von ihm Oswald Wieners Theorie des Denkens (hg. mit T. Eder und M. Schwarz, De Gruyter 2023). www.nachbrenner.at @raab.raskolnikova @raab.raskolnikova

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