Loading...
You are here:  Home  >  Kunst und Kultur  >  Current Article

Die Flüssin

By   /  1. März 2024  /  No Comments

    Print       Email

Wenn über Flüsse geredet wird, geht es um alles Mögliche, aber selten um Erinnerungskultur. Zur Auseinandersetzung mit Flüssen als Orte der Erinnerung schreibt Wiltrud Hackl – bis hin zu Wassergeistern und Nixen als Forschungsansatz.

In meiner Kindheit ist der Fluss „Ager“ drei Flüsse. Die eine Ager ist kalt schimmernd und drängt sich in breitem Bett bei Kammer aus dem Attersee, behält für wenige Meter seine karibische Farbe, verliert sie und trifft auf ein erstes Wehr – Schwimmen verboten! Die zweite Ager ist für mein Kinderauge unsichtbar, verborgen hinter einem Zellstoffwerk, das man auf der Fahrradstrecke zum See nicht passiert, aber hier ereignet sich etwas, das die dritte Ager, wenn sie schließlich durch den Herkunftsort fließt, zu einem Un-Ort macht – auch hier: Schwimmen verboten! In der kindlichen Erinnerung braucht man bloß eine Zehe in die Ager zu halten und die Giftstoffe, die ihr in den 1970er Jahren ab Lenzing zugeführt werden, brizzeln im kindlich-wohligen Grusel das Fleisch rund um den Knochen ab. Wer traut sich? Neongelbgrün ist sie in der Vorstellung, wie alles Giftige, dunkelbraun bis schwarz ist ihr Wasser auf den Fotos. Längst hat sie sich erholt, höre ich, sauber ist sie jetzt, die Ager, schwimmen war ich in ihr ab Lenzing dennoch nie. Erst Jahrzehnte später lerne ich, welche traumatischen, gewaltvollen Realitäten die Ager ab Lenzing und lange vor meiner Kindheit mit sich führt. Die jüdischen Besitzer des Zellstoffwerks wurden 1938 enteignet und das Werk der „Thüringer Zellstoff AG“ einverleibt. Kurz nach der Übernahme wurden bereits Zwangsarbeitende eingesetzt; ab November 1944 dann hunderte Frauen aus dem circa 5 Kilometer entfernten, in einer alten Papierfabrik errichteten KZ-Außenlager Pettighofen/Lenzing.

Das Lager liegt direkt an der Ager, auf einem Foto am Tag der Befreiung sieht man die Frauen am Ufer stehen, manche drehen sich vom Fluss weg und blicken in die Kamera, hinter ihnen macht sich ein Drahtzaun aus, der das Lagerareal vom Fluss trennt. Welche Rolle spielt der Fluss in der Wahrnehmung der Frauen, die hier fünf Monate bei extremen Hygiene- und Arbeitsbedingungen verbringen mussten? Welche Bilder von Hoffnung haben sich für die Frauen während der menschenverachtenden Inhaftierung beim Blick über den Fluss, beim Blick nach draußen möglicherweise aufgetan, immerhin ist es kein besonders breiter Fluss, der Bauernhof auf der gegenüberliegenden Seite sichtbar, fast greifbar. Wussten die Frauen – der Großteil ungarische Jüdinnen, andere wurden aus Polen, der Slowakei, Österreich und Deutschland hierher verschleppt – wo sie sind, wie der Fluss heißt und wohin er sie bringen würde, wenn sie dem Fluss folgen würden, war da überhaupt die Kraft für einen Gedanken an Flucht? Neun Tote sind dokumentiert. Von fünf weiß man, dass sie auf ihrem Weg zu den Produktionsstätten von einem Zug überfahren wurden. In einem ausführlichen, im Jahr 2003 geführten Interview1 mit Clare Parker, die 1932 in Budapest als Klara Hochhauser geboren wurde und mit ihrer Mutter nach Lenzing kam, berichtet diese allerdings von vielen Frauen, die verschwanden. Sie seien so viele gewesen, als sie ankamen, erzählt sie, und immer wieder verschwanden Frauen, kamen nicht zurück von ihrer Arbeit, so auch ihre Mutter. Wie sind die Namen dieser Frauen, wohin sind sie verschwunden? Die Erinnerung an die Zwangsarbeiterinnen in Pettighofen und an neun dokumentierte Tote scheint im Kontext lokaler Erinnerungspolitik lange Zeit keine Priorität zu haben. Erst 1992 wird dank zivilgesellschaftlichen Engagements2 am Ufer der Ager ein Denkmal errichtet, das an die Frauen erinnert.

Die Ager ist ein kurzer, wenig bedeutender oberösterreichischer Fluss, ein Ab/Fluss aus dem Attersee, der nach 34 Kilometern in die Traun fließt. Er steht exemplarisch für eine Landschaftsform, die in Bezug auf eine Kultur und eine Praxis des Erinnerns wenig Beachtung erfährt. Der Fluss spült auf den ersten Blick alles fort, was vergessen werden soll. Und entlang der Ager will in Lenzing, in Vöcklabruck, in Edt bei Lambach und Gunskirchen, wo die Ager längst in die Traun geflossen ist, in Wels und Linz, wo die Traun in die Donau fließt, die an Mauthausen vorbeiführt, nach 1945 viel vergessen werden. „Auch Gewässer lassen sich (…) zu Komplizen machen“ schreibt Martin Pollack, „Vor allem ist Wasser verschwiegen wie das sprichwörtliche Grab. Es wahrt Geheimnisse, auch die Anonymität der Opfer, verlässlicher als jeder Boden. Wenn schließlich doch hier und da einmal Knochen ans Ufer gespült werden, von den Wellen gesäubert und blank geschliffen, ist es meist ein aussichtsloses Unterfangen, nach den übrigen Resten suchen zu wollen. Die hat die Strömung mitgerissen oder sie wurden vom Flussgeröll zu Staub zermahlen, sind im Fluss versunken.“3

Flüsse tragen mit, schwemmen fort, holen ein, ziehen uns weiter, saugen uns mit jeder Welle ein, die sich über die Kiesel legt, sie atmen uns. Sie geben über ihr Flussbett hinweg Bilder frei auf das Gegenüberliegende, das Andere, das nicht Erreichbare, die Sehnsuchtsorte. Sie bieten Schutz, verwischen die Spuren, bilden Fluchtrouten und Todeszonen. Sie bilden Grenzen, Räume, werden gebraucht, um erfundene Identitäten und Nationen zu legitimieren. Sie treten über ihre Ufer, über die Parkplätze der Einkaufszentren, denen die Aulandschaften weichen müssen und reißen alles mit, lassen es andernorts wieder auftauchen. Sie tragen – leise und sanft – und ziehen in die Tiefe. An Flüssen finden Rituale statt, ihr Wasser reinigt – und dazu muss es nicht einmal reines Wasser sein, es muss nur fließen, sodass man ihm aufbürden kann, was man loswerden möchte.

Denkmale und Gedenksteine säumen die Ufer, und an vielen ist die Absurdität zu erkennen, in Materialien wie Muschelkalk, Sandstein, manchmal Granit oder Bronze festhalten zu wollen, was der Fluss längst andernorts ans Ufer gespült hat.

Fließen-Fluss-geflossen. Ge-Flossen. Fischschwanz. Nixe.
Erinnern am und mit dem Fluss bietet eine andere Erinnerungspraxis als die des Erhabenen und Festgezurrten, des Abstrakten; eines Erinnerns, das sonst in Form von Denkmälern gleichsam aus der Landschaft und von den Tatorten, Konzentrationslagern und Schlachtfeldern gerissen wurde; und dessen Abstrahierungen einmal im Jahr mit Kränzen und Blumen belegt werden. Diese Praxis lässt sich oft nur wenig in Bezug setzen mit den Leben, den Schicksalen, den Familien, der Verzweiflung, den Todesängsten, den Alpträumen und den Hoffnungen. Erinnern mit dem Fluss erfordert eine andere Blickpolitik, andere Hierarchien des Gedenkens, andere Vermittlungspraktiken von Gedenken. Es sucht nach den imaginären Potenzialen von Landschaftsräumen in Verbindung mit Ereignissen, die wir erinnern und Menschen, derer wir gedenken wollen. Da haben Gedenksteine ebenso wie andere Objekte, die respektvoll zur Erinnerung beitragen, Platz, wie alle anderen Teile, die sich im Fluss zusammentun, verschränken und auflösen: Ufer, Benthos, Wasser, Sträucher, Strände, Angespültes, Mitgerissenes.

Ein Beispiel ist das von Gyula Pauer und Can Togay 2005 geschaffene Holocaust-Mahnmal am Donauufer in Budapest, das an die tausenden jüdischen Bürger:innen erinnert, die Ende 1944 von Pfeilkreuzlern – den ungarischen Faschisten – erschossen wurden. Ihre Leichen wurden in die Donau geworfen, 60 Paar Schuhe aus Eisen erinnern daran. Als wären sie eben erst ausgezogen worden, stehen die Schuhpaare nebeneinander an der Promenade und stellen so eine Gegenwärtigkeit dar, die sprachlos macht. Schuhe am Boden, die keiner mehr trägt. Es braucht nicht viel, um nötige Fragen aufzuwerfen, um zwischen Zeitebenen zu vermitteln, um das imaginative Potenzial dieser Orte, an denen sich kaum Vorstellbares zugetragen hat, wahrnehmbar zu machen. Geister – analog zu den Ausführungen Avery F. Gordons betrachtet – verbinden an diesen Orten historische, soziale subjektive Ereignisse, „beleben“ diese Orte, indem sie sie heimsuchen.4 Avery schreibt dazu konkret: “The ghost is not simply a dead or missing person, but a social figure, and investigating it can lead to that dense site where history and subjectivity make social life”.

Seit längerer Zeit beschäftige ich mich als Researcherin genau damit: mit Phantasmen. Und insbesondere mit jenen, die sich am, im und rund ums Wasser ansiedeln, im Fall von Gewässern sind das Nixen, Nymphen, Undinen und andere Wassergeister. Ich habe außerdem in einem feministischen Akt den Fluss zur „Flüssin“ gemacht. Und aktuell gehe ich im Rahmen einer Lehrveranstaltung der Frage nach, wie Phantasmen zum Beispiel mit Erinnerungskultur und Flüssen in Bezug gesetzt, wie sie befragt und miteinbezogen werden können. Einerseits als Entitäten, die schlichtweg „da sind“, andererseits angesichts ihrer „Erzählung“ als ein Gedächtnisapparat, der immer und immer wieder angeworfen wird, um neue alte Erinnerungen zu produzieren.

Nixen, Nymphen, Undinen und andere Wassergeister bilden demzufolge, in einem Forschungsansatz zwischen Entität und sich reproduzierendem Gedächtnisapparat, sowohl die Übergänge, die von einer Zeitebene in die nächste und wieder zurückführen, als auch die Plattformen, auf denen Menschen, Landschaften, Objekte, Bilder, Erinnerungen sich ineinander verschränken. Nicht zuletzt wurden und werden Phantasmen benutzt und übergestülpt, wenn es um die Legitimierung von Kriegen, Vertreibungen, Ausgrenzungen und Massenmorden geht. Und sie sind oft sehr schwer loszuwerden, erinnern an Verdrängtes, suchen eben „heim“. Ich empfinde es daher nur als logisch und fair, wenn Phantasmen miteinbezogen werden, wenn es um das wiederkehrende zeitgeschichtliche „Danach“ geht, um das Aufräumen und Einordnen, um Reflektieren und Neuerrichten. Dann aber nicht, um mit Phantasmen unpolitische, „vermythologisierte“ Leerstellen zu füllen und lediglich das zu repräsentieren, wovon wir uns abgrenzen wollen, sondern im besten Fall um gleichberechtigte, phantasmatische Kompliz:innen zu gewinnen. Mit welcher Form und Sprache das gelingen kann, wird sich unter anderem im Lehrveranstaltungskontext herausstellen.

 

1 Clare Parker (weitererzaehlen.at)
2 Mauthausen Komitee Vöcklabruck (voecklabruck.net)
3 Pollack, Martin; Kontaminierte Landschaften, Salzburg 2014, S. 62
4 Avery F. Gordon, Ghostly Matters, Minnesota 2008, S. 8

 

Wiltrud Hackl ist außerdem im Zusatzprogramm der aktuell laufenden Ausstellung tätig:

Ausstellung Lentos Kunstmuseum
Donau:Insel
23. Februar – 5. Mai 2024
Industriezone, Naherholungsgebiet und sensibles Ökosystem – die Donau ist als überformte Kulturlandschaft von starken Gegensätzen geprägt. Die österreichischen Künstler Herwig Turk und Gebhard Sengmüller machen dies zum Ausgangspunkt ihrer künstlerischen Recherche: im Rahmen ihres Projekts Donau: Schichtwechsel im Lückenraum entstand ein ursprünglich für Wien konzipierter Werkkomplex an der Schnittstelle von Kunst und Naturwissenschaft. Dieser wird durch die geografischen, ökologischen und historischen Gegebenheiten der Stadt Linz für die Ausstellung erweitert. Durch die Insel als künstlerische Denkfigur verbinden Turk und Sengmüller historische Gegebenheiten mit aktuellen gesellschaftspolitischen Diskursen rund um die Nutzbarmachung des Donauraums durch eine künstliche Insel.
Eine Ausstellung von: Herwig Turk & Gebhard Sengmüller in Zusammenarbeit mit Ortrun Veichtlbauer.
lueckenraum.at

Zusatzprogramm:

07. März, 18:00 Uhr / Lentos
Podiumsdiskussion: die Donau – ein gebauter Fluss
Expert*innen aus unterschiedlichen Disziplinen sprechen über die wechselhafte Geschichte der Donau, ihre industrielle Nutzung im Lauf der Zeit, sowie deren Einfluss auf Umwelt und Gesellschaft. Herwig Turk im Gespräch mit der Künstlerin Wiltrud Hackl, der Kulturwissenschaftlerin Julia Grillmayr und dem Umwelthistoriker Georg Stöger.

Termin / Ort – tba
Live-Diskussion auf dem Wasser: Donau, Inseln, Transformation und Autonomie
Initiativen und Künstler*innen, die sich in ihren Projekten mit der Donau beschäftigen, sprechen auf einem Schiff über ihre Arbeit. Teilnehmer*innen: Stadtwerkstatt Linz (86 Meter Donauufer, Deckdock, Tanja Brandmayr); Herwig Turk & Gebhard Sengmüller (Donau: Insel); Leo Schatzl (Floating Village); Julia Grillmayr, Christina Gruber und Sophia Rut (Lobau Listening Comprehensions); Messschiff Eleonore (Franz Xaver, Jan-Nahuel Jenny); time’s up (New New Atlantis); Christoph Wiesmayr (Schwemmland); Wiltrud Hackl (Wasserfrauen).
Zu sehen auf: dorftv.at

Zur Ausstellung ist eine Publikation erschienen.

lentos.at

    Print       Email

About the author

wiltrud katherina hackl forscht zu und schreibt über konstruktionen von weiblichkeit und wasser und ist aktuell als universitätsassistentin an der kunstuni linz tätig, wo sie u.a. zu flüssen als orte der erinnerung lehrt. für ihr projekt „die flüssin“ sammelt sie geschichten von und mit flüssen. wiltrudhackl.com

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert