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Handbuch für Futurnaut*innen

By   /  30. August 2023  /  No Comments

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Die im Juli 2023 erschienene Publikation „Futures Brought to Life“ vom Künstler*innenkollektiv Time’s Up entwirft eine spekulative, alternative Reise in mögliche Zukünfte. Christian Wellmann hat die Buchpräsentation besucht und sich Gedanken zur Zukunft im Plural gemacht.

Foto Time’s Up

„Was wäre, wenn …“ ist ein (möglicher) Ausgangspunkt, um Zukunft Leben einzuhauchen. Wie bei Frankensteins Monster wird mit diesem simplen Gedankenexperiment etwas Lebendiges erschaffen. Und damit das (durchaus liebenswerte) Monster Zukunft geboren.
Morgen suhlt sich gerne im Heute, seien es Wetterprognosen, Sportwetten oder die Entscheidung, was wir kochen wollen. Durchaus prognostizierbar bei kurzen Zeitspannen, aber nebulös und megakomplex, wenn in die weite Ferne geblickt wird. Viele denken an die Börse oder Esoterik, andere sehen es als pure Zeitverschwendung, überhaupt an etwas Fiktionales zu denken.
In die (unendlichen) Möglichkeiten des Kommenden einzutauchen und dies mit Leben (= Gedanken) zu beseelen zu versuchen, ist knifflig genug. Und dazu brauchen erst gar keine fremden Planeten besiedelt zu werden. Daraus entstehen mögliche Zukünfte – im Plural benutzt, da niemand weiß, wie die (eine) Zukunft wird und es kein richtig/falsch gibt. Es kann nur ein Vorschlag gemacht werden. Dafür gibt es den Begriff „Futures Thinking“: Es existieren mehrere mögliche, gut durchdachte Zukünfte, die für Aktionen verwenden werden. Szenarien werden in einer vielschichtigen Entwicklung entworfen, wieder verworfen und geschärft. Zeitlos gemacht.

„Ist die Zukunft auch nicht vorhersehbar, so ist sie aber sehr wohl vorstellbar“, so die Feststellung vom im Linzer Hafen beheimateten Künstler*innen-Kollektiv Time’s Up (TU). Die im Juli 2023 erschienene Publikation „Futures Brought to Life“ entwirft eine spekulative, alternative Reise in mögliche Zukünfte. Es versteht sich nicht als vollständiges Werk, sondern als in der Zukunft fortzuschreibendes Projekt. Möglichkeiten der Zukünfte werden den Leser*innen nahegebracht und sollen uns zum Grübeln bringen, wie sie sich entwickeln könnten. „Futures Brought …“ setzt ein Interesse, aber kein grundlegendes Wissen über Ideen des „Futures Thinking“ voraus. Zukunftsdesign, Zukunftsdenken, kunstbasierte Forschung, begehbare Erzählungen, Worldbuilding, Szenario-Entwicklung etc. werden behandelt und miteinander in Verbindung gebracht. Aufschlussreich besonders für jene, die künstlerische Forschung als Grundlage nutzen wollen – für die Inspiration aktiver Handlungsmöglichkeiten im Werden begriffener Zukünfte.

Als praktisches Handbuch (und komplett in Englisch) aufgemacht, ist auch eine elektronische Version via timesup.org erhältlich. Es zeigt die Entwicklung eines interdisziplinären Forschungsprojekts, das vor einer Dekade begonnen wurde, und ist zugleich Bericht, Untersuchung oder Forschung, wie Zukünfte in ihre Arbeit einfließen. Formal, aber spielerisch. Irgendwie ein Making Of mit Behind the Scenes. Dank der glasklaren Struktur, anhand der „Futures Brought …“ nicht auseinanderfällt, ist das Nachschlagwerk perfekt gegliedert. Es werden u. a. Ausstellungen, Workshops, Theorien, Arbeitsweisen detailverliebt beschrieben. Ein Buch der Ungewissheiten, aber auch eine Anleitung zum Selbermachen. Unangenehm für viele, essentiell für furchtlose Futurnaut*innen.

TU hat stets zukunftsweisende Ansätze in ihre künstlerische Arbeit eingebaut – das Kommende wird nicht als etwas Starres, sondern als sich ständig Änderndes betrachtet. Ausgehend von kritischem Denken, unangenehme Fragen stellend und damit den Status Quo festlegend, aus dem sich mögliche Zukünfte ergeben, begibt sich das Buch auf eine Reise durch den spekulativen Realismus. Neugierig und kreativ, nicht in dystopischen, utopischen oder pessimistischen Narrativen gefangen, eine Reise in die Zukunft wagend. Positive Vibrationen mit drängenden Fragen zu einer Welt, in der wir alle leben wollen, mischend.
Um Zukünfte zu konstruieren, verlangt es eine Vielfalt an Ideen. Ein angewandter Prozess, der zu abstrakten Einsichten und Reflexionen führt und dabei auf visionäre Änderungen zielt. Sozusagen wird damit selbst in die Zukunft eingegriffen, wenn auch nur als Vorschlag zur Güte. Eine mehr oder minder spekulative, alternative Gegenwart zu konstruieren, Konsequenzen sichtbar zu machen, Signale zu dekodieren und eine Modellbauer*in zu werden, verlangen eine langwierige Lösungsfindung, die Detailfülle erschlägt einen dabei förmlich. Wobei schon die unmittelbare Erfahrung und die praktische Auseinandersetzung mit Zukunftsfragen die Vorstellungskapazität über Zukünfte steigert.
Fundamental ist für TU die Feststellung, dass sie keine Futuristen sind, so auch der Sub-Titel des Buchs („We are no Futurists“). Wenn schon, dann „Mutant Futurists“, da Teile des Zukunftsdenkens für Geschichten und Räume verwendet werden, wie uns das früh im Text mitgeteilt wird. Zukunftsdenken ist wie ein Alphabet, das wir lernen können: Beginn einfach mit einem Gedanken, einer Spekulation und folge. Die Ergebnisse sind oft Überraschungen, die sich in verschiedene Richtungen entwickeln. Es geht um eine Neupositionierung der Gedanken und um bewegliche Ansichten. Die meisten Ideen wandern aber naturgemäß in den Papierkorb. Wie bei allem, was TU fabriziert, schwingt auch bei diesem Manual der „Think Global, Act Local“-Gedanke im stürmischen Wind.

Physische Narrative, also eine Umgebung, die eine Geschichte beschreibt und gleichzeitig eine Erzählung einer Situation ist, die erforscht werden soll, nehmen zentrale Punkte ein. Diese sogenannte XFPN (experiential future physical narratives) haben sich zu einer der bestimmenden künstlerischen Praktiken von TU entwickelt. Sie zielen darauf, dass Besucher*innen zum Erkunden/Entdecken angespornt werden und Vorstellungen von möglichen Zukünften entwickeln. Die Schaffung von immersiven Erfahrungen bzw. diese den Menschen in begehbarer Form zugänglich zu machen, ist nichts anderes als ein Prototyp der Zukunft. In immersiven Welten wird es Individuen ermöglicht, emotional mit alternativen Szenarien zu agieren und aktive Co-Schöpfer dieser Zukünfte zu werden. Dieser Prozess des Weltaufbaus wird als traumähnlich beschrieben.
Mittels zweier groß angelegter Projekte – Lucid Peninsula (TU, 2014) und Turnton (TU, Lentos, 2017 und zuletzt ZOOM Wien, 2023) – werden diese Physischen Narrative laufend ergänzt. Ebenso findet man solche XFPNs beim Kollektiv Superflux, denen es darum geht, Ungewissheiten der Zukunft in heutige Entscheidungen zu übersetzen.
Die Turnton-Welt wird in „Futures Brought …“ ausufernd beschrieben und (wieder) lebendig gemacht. Eine Installation, die sich ständig ändert. Das von 2015-16 entwickelte Szenario Turnton hat als Storyworld eine fiktionale, zukünftige europäische Küstenstadt namens Turnton im Jahr 2047 zum Thema: Die Festung Europa ist Vergangenheit, toxische Naturkatastrophen wüten. Anhand von Fragmenten wie Stadtplatz, Museum, Bar etc. zeigt Turnton eine bewusste Lösung, eine progressive, sozioökonomische Antwort auf den Kollaps von Klima- und Ökosystem. Um sich weiter in die Materie zu vertiefen, gibt es eine eigene Zeitung, die „Turnton Gazette“. Es entstehen beklemmende sozioökonomische Bilder, das meiste dieser Welt bleibt aber spekulativ und in den Köpfen der Besucher*innen. Vielfalt ist keine Krankheit.

Von TU ausgerichtete Workshops zum Thema werden ebenso erläutert. Mit unterschiedlichen sozialen Gruppen werden laufend Zukünfte erarbeitet – im Kollektiv und fern von futuristischen Konzepten. Die entstehenden Perspektiven werden mit strategischer Voraussicht von allen Beteiligten mitgestaltet. Wünsche, Hoffnungen oder Visionen sind dabei wichtige Bausteine für die Ideenfindung. Techniken, bzw. wie sie benützt werden, sind ebenso wie gewisse Richtlinien und Prinzipien zu finden. Neugier, Spielen, Lernen und Genießen, Vielfalt respektieren, für Überraschungen offen sein und auf Vertrauen bauen. „Futuring“ wird auch mit Singen verglichen, als spielerische und kulturelle Erweiterung unserer Möglichkeiten.

Einen guten Teil des Buchs nimmt das „Futures Brought to Life-Symposium“ (Wien, 2022) ein, in dem Theoretiker*innen und Praktiker*innen ihre Reflexionen zu durchaus widersprüchlichen Themen auf uns prallen lassen. Neben einem Essay der Medienaktivistin und experimentellen Zukunftspraktikerin Julia Nüßlein, können mittels QR-Code alle Beiträge nachgelesen werden. Von FoAm zu The Yes Man, und vielen mehr, wird visionäres Zukunftsdenken zwischen Theorie und Prankstertum vermittelt.
Ebenso kommt das theoretische Rüstzeug im Beitrag von Paul Graham Raven nicht zu kurz. Abschließend werden Mitstreiter*innen der Zukunftsforschung zwei Fragen gestellt: Wie kann jemand Zukünfte zum Leben erwecken? Und welche Strategien dazu verwenden?
Am Ende des Tages entsteht ein universelles Bild einer möglichen Zukunftsschreibung, das mehr ist als reine Spekulation. Heute für Morgen. Morgen im Heute.
Auch das TU-Logo, die abgelaufene Uhr, hat zeitlose Qualität. In der Ukraine wird der Buchstabe Z, der als Propaganda-Vehikel zur Unterstützung für die russische Besatzungs-Armee entfremdet verwendet wird, durch einen simplen Querstrich zur Sanduhr. Ja, die Zeit ist um – weil abgeschafft.

 

Time’s Up (Hg.) Futures Brought To Life
Verlag Universität für angewandte Kunst Wien
192 Seiten, in englischer Sprache
ISBN: 978-3-9505090-3-8
Preis: 12,– (+ Versand)
Bestellung: info@timesup.org  

Autor*innen: Alex Davies, Alexandra Fruhstorfer, Anab Jain, Anne Seubert, Barbara Prainsack & Hendrik Wagenaar, Changeist | Susan Cox-Smith & Scott Smith, Claire Marshall, Eva-Maria Spreitzer, FoAM | Maja Kuzmanovic & Nik Gaffnay, Gerald Bast, Idil Gaziulusoy, Ilija Trojanow, Jacques Servin | The Yes Men, Jeremy Bentham, José Ramos, Julia Nuesslein, Julian Bleecker, Katharina Unger, Lucy Kimbell, Martina Oettl, Michaela Davies, Noah Raford, Paul Graham Raven, Peter Hayward, Petra Schaper-Rinkel, Rok Kranjc, Sam Bunn, Sophie Howe, The Extrapolation Factory | Chris Woebken & Elliott Montgomery, Time’s Up, Tim Boykett, Tina Auer, Trevor Haldenby, Wenzel Mehnert

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About the author

schreibt, Sachen wie diese. Ist DJ und beschäftigt sich eingehend mit Comics.

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