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Werden wir uns wieder­sehen?

By   /  4. Juni 2021  /  No Comments

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Der diesjährige und letzte Höhenrausch, kuratiert von Martin Sturm und Rainer Zendron, präsentiert 35 künstlerische Positionen, die den Begriff Paradies aus sehr unterschiedlichen Perspektiven ins Bild setzen. Eine der gezeigten Arbeiten trägt den Titel „RISE. Turnton2047“ und wurde vom Linzer Künstler:innenkollektiv Time’s Up detailreich im OK eingerichtet.

Time’s Up, seit 1996 im Linzer Hafen verankert, weitet verlässlich die gebräuchlichen Grenzen der Disziplinen Kunst, Technologie, Wissenschaft und Unterhaltung aus und vernetzt sie miteinander. Als Labor zur Schaffung experimenteller Situationen modelliert es dem Alltag entlehnte Wirklichkeiten im Verbund mit möglichen Zukunftsszenarien zu raumgroßen, begehbaren, haptisch erlebbaren Erzählungen. Die interaktiven, transmedialen Installationen sind durch die Rezipient:innen intuitiv und spielerisch erfahrbar. Mehrfach wurde Turnton bereits für Ausstellungen in Museen und Galerien „verzimmert“ – eine Wortkreation von Time’s Up – und als begehbare Erzählung oder auch Physical Narratives aufgebaut. Letzteres sind ebenfalls Begriffsbildungen von Time’s Up.

Kulissen und Architekturen
möglicher Zukünfte Unter dem Titel „Ein sicherer Hafen in nächster Nähe“ heißt es in der Wochenzeitung „Turnton Gazette“, einer dem Projekt zugeordneten Zeitungsfiktion vom 13.–19. September 2047: „Im vergangenen Jahr erlebte die Hafenschifffahrt im Hafen einen massiven Aufschwung. Nur in 28 der 52 Wochen des Jahres gab es eine Medusozoa-Pest, sodass Schleppboote und andere Hafenfahrzeuge über viele Wochen hinweg in Betrieb bleiben konnten. Von den 24 Wochen, in denen ein Betrieb möglich war, war die Algenpest an einem Drittel der Tage so gering, dass ein normaler Schifffahrtsbetrieb aufrechterhalten werden konnte.“ Damit verortet sich „RISE. Turnton2047“ in einen möglichen Alltag im Jahr 2047, ist Entwurf einer fiktiven Hafenstadt und zeigt als immersive Rauminstallation eine von Umweltkatastrophen dominierte Welt. Das lässt sich als Klimaperspektive lesen, die eine soziopolitische Utopie in der ökologischen Dystopie darstellt.

Wir haben uns bereits in Bewegung gesetzt
Weitere News der Gazette von 2047: „Die Turnton Medical Association (TMA) reagiert auf die anhaltenden Luftfeuchtigkeitsschwankungen mit einer großzügigen Aufstockung ihrer Notdienstmitar­beite­r:in­nen und der engmaschigen Einrichtung zusätzlicher Hitze-Notstellen im Stadtgebiet. Es ist kein schönes Bild, aber leider schon ein vertrautes: Wer an einem der auffällig oft auftretenden schwülen Tage in letzter Zeit in Turnton unterwegs war, konnte fast darauf wetten, wieder einen Hitzekollaps auf offener Straße mitzuerleben.“
Doch anstatt sich dieser Dystopie hilflos zu ergeben, imaginieren Time’s Up in ihrer „Experiential Future“ eine Gesellschaft, die die kommenden Dekaden dazu genutzt hat, das Miteinander anstelle des Gegeneinanders ins Zentrum des Zusammenlebens zu stellen; und Pfade einzuschlagen, die ein „besseres Leben für alle“ realisieren.
Umgesetzt mit an Theater- oder Filmkulissen erinnernden Elementen, erweitert um Licht-, Duft- und Tonlandschaften, mit Hörspielen und medial und haptisch aufbereiteten Requisiten, schafft die Inszenierung einen Rahmen, um in diese Erzählung einzutauchen. Ihr Mittelpunkt ist die Medusa Bar, in einer nicht allzu fernen Zukunft beliebter Treffpunkt für ein bunt gemischtes Publikum im Hafenviertel von Turnton. Durchreisende, Ankommende und in der Stadt angesiedelte Menschen treffen aufeinander, lernen sich kennen und tauschen sich aus. Beim Genuss der regionalen Quallenspezialitäten informieren sie sich über Aktuelles, teilen Gerüchte, Anekdoten und Legenden, bekunden ihre Ängste und Sorgen, offenbaren ihre Hoffnungen und Freuden. Und das Publikum ist mittendrin.

Immersive Strategien
„In unserer Arbeit spielt Immersion eine wesentliche Rolle. Wir möchten Räume so inszenieren, dass man sich als Besucher:in beteiligen kann und interaktiv eingebunden wird“, erzählt Tina Auer, Mitglied von Time’s Up. „Das Sinnliche am Erfahren war schon bei unseren interaktiven Medieninstallationen relevant, und wir haben irgendwann begonnen, uns mit begehbaren Erzählungen auseinanderzusetzen. Gesellschaftspolitische Themen und deren Narration(en) wurden immer wichtiger, und die Idee möglicher Zukünfte. Daraus entwickel(te)n wir Turnton, eine Storyworld mit vielen Facetten.“ So ist in der Gazette auch von den Stars der diesjährigen Fashion Show die Rede, von der wiederkehrenden Modenschau des Department for Slow Fashion & Smart Textile Department der Turnton University. Diese präsentiert Arbeiten der Studierenden und damit die letzten Trends im Fashion-Universum. „Der Schwerpunkt wird dieses Jahr auf Mode aus Quallen-Leder liegen – man darf also gespannt sein auf eine erquickliche Bandbreite von Tauchmode bis hin zu kompakter Wintermode. Berücksichtigt wurde dabei besonders die steigende Luftfeuchtigkeit, die – so viel dürfen wir bereits vorab verraten – wegen spezieller Imprägnierungsverfahren keine besondere Rolle mehr spielen dürfte.“

Wiederverwertungs­geschichte(n)
Der Zeitungsartikel „Die bionische Begrünung“ erklärt uns, was wir vom Dunkelkäfer lernen können und dass die Süßwasseraufbereitung in Wüsten ein weiteres Einsatzgebiet im südlichen Afrika gefunden hat – und nun eine ehemalige Steppenregion begrünt wird. Und wir erfahren vom Travelmotel Turnton, das Reisenden einen 24 Stunden zugänglichen Rückzugsort in unmittelbarerer Nähe zum Hafen und Transkontinentalen Hauptbahnhof bietet. Wir begegnen Figuren wie der ehemaligen Meeresbiologin Fenfang Lin, die in Turnton zur Barbesitzerin wurde, und dem Radical-Recycling-Spezialisten Baron Trashy, indem wir lesen können, was „seit letzten Donnerstag fix“ ist: „Die Global Authority for Sustainability (GAS) genehmigt die ambitionierten Umbaupläne für das Turnton Radical Recycling Werk ohne weitere Auflagen. Müllverwertungslegende Baron Trashy scheint im Siebten Himmel zu schweben, ‚Wir haben es geschafft! Alle unsere zukunftsweisenden Vorhaben wurden von der GAS vorbehaltlos genehmigt. Ich glaube, hier wird gerade Wiederverwertungsgeschichte geschrieben!’“ Und wir lernen die auf ihre Weiterreise wartende Dokumentaristin Nele Rahimi kennen, die seit Jahren den emotionalen Bindungen zwischen Menschen und Maschinen auf den Grund geht. Und wir hören von der eingetragenen Partnerschaft des Kellners Collin, einer Künstlichen Intelligenz, mit einem Menschen.

„Change was our only chance“
Das in „RISE. Turnton2047“ entwickelte Szenario ist ein im Prozess befindlicher Organismus, der davon ausgeht, dass das Ökosystem kollabiert ist. Totzonen haben sich ausgeweitet und das Meer wurde zu einem lebensbedrohlichen Ort, sodass dieses nur mehr zum Teil und mit besonderen Schutzmaßnahmen für die Menschheit nutzbar ist. Doch: Anhand bereits im Heute existierender Konzepte und Visionen skizziert Time’s Up Vorschläge, die sowohl einen nachhaltigeren Umgang mit unserem Planeten erlauben, als auch ein besseres, faireres Leben für alle ermöglichen. Sie denken eine mutige sozial-ökonomische und soziopolitische Utopie, in der zunehmende Ungleichheit und Ungerechtigkeit als grundlegendes Problem erkannt und unterbunden wurde.

„Change was our only chance“, ist Auer überzeugt. „Prognosen geben wir keine ab. Wir greifen lediglich aktuelle Trends und Signale auf und projizieren diese Visionen und Ideen in eine mögliche Zukunft; es ist eine Bewegung zwischen Utopie und Dystopie und eine ‚Futuring Exercise‘, in der es darum geht, die Vorstellungskraft zu trainieren. Wir verwenden dazu ein ‚Scenario Development Tool‘ und gehen von der Frage aus: Wie möchten wir, dass diese zukünftige Zeit aussieht und welcher Schritte bedarf es im Jetzt?“ Auer verweist auf die Vielzahl an Themen, die sich in Turnton verdichten: Umweltverschmutzung, Klimawandel, Transport, Arbeitsweisen, Konsumationsmuster, Wirt­schaftssysteme, Reiseverhalten, Migration.

Glücklicherweise ist uns ein Licht aufgegangen!
„In den kommenden Wochen macht das Zeitgenössische Kunstmuseum Turnton mit dem Genre der ‚Physical Narratives‘ bekannt.“, heißt es in der Gazette. Der Text erhellt damit das Szenario, indem auf die Kunstgattung, deren Name in den 2000ern vom Künstler:innenkollektiv Time’s Up selbst geprägt wurde, Bezug genommen wird: „‚Physical Narratives‘ ähneln Filmsets, Bühnen und Tatorten gleichermaßen. Stets menschenleer, sind sie doch von der starken, manchmal auch unheimlichen virtuellen Präsenz facettenreicher, fiktiver menschlicher Charaktere geprägt. Von deren Existenz zeugen die zurückgelassenen Spuren in den Szenarien, die sich vor den Besucher:innen auftun und betreten werden sollen und wollen. Es wirkt, als seien die Menschen nur eben kurz aus dem Bild gegangen, um Zigaretten zu holen; als sei jeden Moment mit ihrer Rückkehr zu rechnen. Mitunter halten sich die Protagonist:innen der Erzählung offenbar nebenan auf, wie durch die geschlossene Tür aus einem angrenzenden Raum zu hören ist. (…) Mit dem – auch buchstäblichem – Begreifen der sorgfältig ausgesuchten und hergestellten multimedialen Requisiten greifen die Besucher:innen nach und nach die verschiedenen Erzählstränge auf, gelangen an ihre Enden und Knotenpunkte – und so allmählich zu einem Verständnis der materiell gefassten Geschichte, die im Szenario steckt.“

 

Der letzte Höhenrausch im Paradies:
TIME’S UP RISE. Turnton2047, 2016-2021 Installation, begehbare Erzählung, erfahrbare Zukunft
HÖHENRAUSCH. Wie im Paradies Noch bis 17. 10. 2021 OÖ Kulturquartier, OK Platz 1, Linz www.ooekulturquartier.at

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About the author

hat Kunstgeschichte und Philosophie studiert, schreibt für diverse Medien und arbeitet transdisziplinär zu den Themen Raum, Körper und Text.

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