Loading...
You are here:  Home  >  Kunst und Kultur  >  Current Article

„Vor zehntausend Jahren war jeder Mensch ein Anarchist“

By   /  30. November 2023  /  No Comments

    Print       Email

Die Referentin bringt seit längerer Zeit eine Serie über frühe soziale Bewegungen und emanzipatorische Entwicklungen. Andreas Gautsch spannt diesmal den großen anthropologischen Bogen und schreibt über die Erforschung von Gesellschaften, die keine Staaten bildeten oder darüber, dass die Vergangenheit wie die Zukunft gemacht wird.

Die Anthropologie, als Wissenschaft vom Menschen, teilt sich in natur- und geisteswissenschaftliche Ansätze. Zu letzteren zählen die Sozialanthropologie oder die politische Anthropologie. In beiden werden menschliche Gesellschaften auf ihre politische Organisation und die Herausbildung von Macht erforscht. Dies quer durch die Geschichte und global. Daraus ergeben sich folgende zwei Phänomene: Anarchist:innen forschen, um herauszufinden, wie frühe, nicht-staatliche Gesellschaften funktionierten. Und Anthropolog:innen, die sich nicht per se als Anarchist:innen verstehen, finden in grauer Vorzeit Gesellschaften, die als anarchistisch oder anarchoid bezeichnet werden können. Mitunter kommen beide darauf, dass die Anfänge der Menschen doch anders waren, als bislang angenommen wurde.

Irgendwas lief schief
Zur ersteren Fraktion gehörte der kanadische Anthropologe Harold Barclay, der sich zur folgenden Aussage hinreißen ließ: „Da die egalitäre Wildbeutergesellschaft der älteste menschliche Gesellschaftstyp ist und über die längste Zeitspanne hinweg, nämlich über Jahrtausende vorherrschend war, muß die Anarchie die älteste und am längsten existierende Art von Gemeinwesen sein. Vor zehntausend Jahren war jeder Mensch ein Anarchist.“ Lässt man diese Zeitdimension ungezügelt auf sich wirken, relativieren sich die Dummheiten so mancher Regierungen in Richtung Bedeutungslosigkeit. Tausende Jahre bildeten die Menschen herrschaftsfreie, sogenannte akephale Gesellschaften, sie jagten und sammelten, bis es vor gut 10.000 Jahren zur neolithischen Revolution kam. Die Menschen wurden sesshaft und Landwirte. Je mehr man sich jedoch mit diesem Gedanken anfreundet, desto heftiger stößt man auf folgende Frage: Aber warum? Warum geben Menschen ein Anarchist:innen-Dasein auf, um schließlich die ÖVP zu gründen? Warum gibt es eine grüne Ministerin für Klimaschutz ohne aktuelles Klimaschutzgesetz? Warum gibt es eine Bürokratie mit abertausenden unterschiedlichen Formularen? Warum muss ein sozialdemokratischer Politiker eine Vermögenssteuer für Superreiche mit dem Hinweis „Eigenheim bleibt steuerfrei“ fordern? Kurz: Was ist hier schiefgelaufen? Ist der Ackerbau wirklich an allem schuld?

Woher kommt der Staat?
Zugegeben sind das eine Menge Fragen, die im Rahmen dieses Artikels nicht beantwortet werden können. Die konkrete anthropologische Fragestellung zu dieser etwas polemischen Hinleitung lautet: Woher kommt der Staat? Gab es den schon immer? Falls nein, was war davor? Liegt es in der Natur der menschlichen Entwicklung, Staaten zu gründen, oder entstand der Staat durch eine bestimmte Art der Vergesellschaftung dank technischer Erneuerungen? Für Anarchist:innen, die Staaten ablehnen und andere Formen gesellschaftlicher Organisation bevorzugen, bedeutet der Blick zurück eine Möglichkeit, das Sichtfeld auf die Gegenwart zu erweitern. Pierre Clastres, ein französischer Anthropologe, der sich ebenfalls zum Anarchismus bekannte und in Südamerika bei verschiedenen indigenen Gemeinschaften forschte, erlangte in den 1970er Jahren durch sein Buch Staatsfeinde (La Société contre l’État) in der akademischen Welt Bekanntheit. Dort entwickelte er die These, dass der Staat nicht den Abschluss einer evolutionären Entwicklung von Gesellschaft darstellt, sondern dass es Gesellschaften gab (und teilweise bis heute gibt), die die Gefahr von Herrschaft und der Konzentration von Macht und Gewalt, die mit der Staatsbildung einhergeht, erkannten und gesellschaftliche Strukturen und Mechanismen schufen, um diese Entwicklung zu verhindern.
Clastres schreibt, dass die Indigenen Amerikas mit Ausnahme der Hochkulturen Mexikos, Zentralamerikas und in den Anden archaisch waren, worunter er in diesem Zusammenhang versteht, dass sie ohne Schrift auskamen und auf Subsistenzwirtschaft beruhten. Fast alle diese indigenen Gemeinschaften wurden von Häuptlingen angeführt. Bemerkenswert ist jedoch deren „fast vollständiger Mangel an Autorität“. Die Aufgabe dieser Häuptlinge war es nicht, zu herrschen, sondern Frieden zu stiften, großzügig die eigenen Güter zu verteilen und erbauliche Reden zu halten. Auf die weiteren strukturanalytischen Untersuchungen von Clastres wird hier nicht eingegangen und es soll auch nicht behauptet werden, dass es in diesen Gemeinschaften ein egalitäres Verhältnis zwischen den Geschlechtern oder Generationen gab. Es wird auch keine irgendwie geartete Idealisierung angestrebt, sondern eine Perspektive eröffnet, die zeigt, dass menschliche Gesellschaften verschiedene Formen annehmen können und es sich bei diesen Formen nicht um eine stufenförmige Entwicklung von einer ‚primitiven‘ Vergangenheit hin zur ‚zivilisatorischen‘ Gegenwart handelt. Clastres meint dazu: „Die Geschichte der Völker, die eine Geschichte haben, ist, wie es heißt, die Geschichte des Klassenkampfes. Die Geschichte der Völker ohne Geschichte ist, wie man mindestens mit ebenso großer Wahrheit sagen kann, die Geschichte ihres Kampfs gegen den Staat.“ Gibt es aber den Staat nur deshalb, da einige Gesellschaften einfach nicht so erfolgreich wie andere darin waren, diesen zu verhindern? Oder erfordern große, komplexe gesellschaftliche Strukturen, wie jene der frühen neolithischen Städte und Reiche, nicht doch die Entwicklung hierarchischer, staatlicher Gebilde?

Neue Sicht auf die Anfänge
Diese Frage stellten sich David Graeber und David Wengrow in ihrem Buch Anfänge. Graeber, ein bekannter anarchistischer Anthropologe und Bestsellerautor, der 2020 unerwartet verstarb, und der Archäologe Wengrow formulieren die Ausgangsfrage mit entsprechender Verve: „Das wirkliche Rätsel ist nicht, wann erstmals Häuptlinge oder Chefs oder sogar Könige und Königinnen auf der Bildfläche erschienen, sondern ab wann es nicht mehr möglich war, sie einfach durch Gelächter zu vertreiben.“ Die Vorstellung eines Aufstands gegen eine Regierung oder ein Regime als großes Lachkonzert ist erheiternd, jedoch kaum vorstellbar. Die Gegenwart ist davon meilenweit entfernt und wir folgern daraus, dass dies zwangsläufig so sein muss. Vielleicht ist es den beiden Autoren deshalb so wichtig, mit jenen historischen Allgemeinplätzen aufzuräumen, die unsere Sichtweise auf unsere Anfänge verdecken, sich aber auf Grund aktueller archäologischer Forschungsergebnisse nicht mehr halten lassen. Ein paar dieser „Sichtversteller“ werden hier skizziert.
Frühe Gesellschaften waren viel flexibler, als lange Zeit vermutet wurde. Sie wechselten Lebensorte, waren saisonal sesshaft, wechselten vom Ackerbau zur Jagd und entwarfen neue Existenzweisen. So in Amazonien 500 v. Chr.: „Wir haben es hier mit Menschen zu tun, die über sämtliche erforderlichen ökologischen Fähigkeiten verfügen, um Nutzpflanzen und -tiere zu züchten, die aber nichtsdestotrotz an der Schwelle haltmachen und ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen Wildbeuter-Existenz (Jäger und Sammler, hier vielleicht noch besser Waldbeuter) und bäuerlicher Existenz vorziehen.“ Graeber und Wengrow versuchen das Bild von unseren Anfängen zu erweitern und dazu gehört auch, das hartnäckige Gerücht zu widerlegen, dass große und komplexe Systeme nach einem Top-down-Prinzip verlangen – nach Königen, Priestern und allem, was das Patriarchat so zu bieten hat. Die archäologische Beweislage lässt anderes vermuten. Eines der angeführten Beispiele ist die Stadt Taljanky, die zum Städte-Komplex der Cucuteni-Tripolje-Kultur gehörte und im heutigen Osteuropa liegt. Vor ca. 6.000 Jahren entstand dort eine runde Siedlungsanlage mit 1.000 Gebäuden. „Sorgfältige archäologische Analysen zeigen, die scheinbare Einheitlichkeit der ukrainischen Megastätten entstand von unten nach oben durch Prozesse lokaler Entscheidungsfindung. Dies würde bedeuten, dass die Mitglieder der einzelnen Haushalte – oder zumindest ihr Quartiersvorsteher – eine gemeinsame konzeptionelle Vorstellung einer Siedlung als Ganzes besaßen.“ Die menschliche Kreativität und Freiheit ließ bereits damals verschiedene Formen der gesellschaftlichen Gestaltung zu – auch jene der Herrschaftsfreiheit.

Demokratisierung des Staates
Die Anfänge der Menschen waren komplexer und vielfältiger in ihrer sozialen Organisierung, als wir es vermuten: Verschiedene Entwicklungen liefen parallel, wurden auch wieder umgekehrt, verändert, Menschen trennten sich und flohen vor selbsterklärten Königen oder Häuptlingen. Herrschafts- und Gewaltstrukturen sind Resultate menschlichen Handelns und nicht einer entwicklungsgeschichtlichen Determination. Dass sich staatliche Strukturen herausbildeten, kann nicht geleugnet werden. Jedoch gehen diese stets mit ihrer „Widersacherin schwanger: der Anarchie, der Idee einer von Herrschaft befreiten Gesellschaft.“ Der Soziologe Thomas Wagner, der in seinem Essay Die Fahnenflucht in die Freiheit den Widerstand gegen und die Flucht vor herrschaftlichen Strukturen untersucht, kommt zu dem Schluss, dass nicht der wilde und rohe Mensch durch den Staat gezähmt wurde, sondern umgekehrt. Aus einer globalgeschichtlichen Perspektive betrachtet er das Beispiel „herrschaftsloser Gesellschaften am Rande und außerhalb des Wirkungsbereichs von Staaten“ als einen jener Faktoren, „die zur Zivilisierung und demokratischen Zähmung des Staates“ beigetragen haben. Demokratisierung bedeutet eine Dezentralisierung von Macht und Minderung von Gewalt. Dieser Aufgabe werden wir uns weiterhin stellen müssen. Denn falls die Rechnung vom eingangs erwähnten Anthropologen Barclays stimmt, befinden wir uns in einer Entwicklung immer größer werdender Staatsgebilde. Mit seinem Verweis auf den Anthropologen Robert Carinero wird dieser Trend im Jahr 2300 mit dem Weltstaat abgeschlossen sein. Aber bis dahin kann ja noch einiges passieren.

 

Literatur:

Harold Barclay: Völker ohne Regierung. Eine Anthropologie der Anarchie. Libertad Verlag, Berlin, 1985

David Graeber, David Wengrow: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit. Klett-Cotta, Berlin, 2022

Thomas Wagner: Wie der Staat sich seine Feinde schuf – Skizzen zur Globalgeschichte der Demokratie. Matthes & Seitz, Berlin, 2022

Pierre Clastres: Staatsfeinde. Studien zur politischen Anthropologie. Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1976

Die Serie in der Referentin über Anarchismus, frühe soziale Bewegungen und emanzipatorische Entwicklungen ist auf Anregung von Andreas Gautsch, bzw. der Gruppe Anarchismusforschung entstanden.

    Print       Email

About the author

Institut für Anarchismus­forschung, siehe auch anarchismusforschung.org

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert