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Nach dem Stillstand

By   /  4. Juni 2021  /  No Comments

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Im Rahmen des Festivals FMR 21 wurde in den ersten Junitagen ein Symposium an einem ephemeren Ort des Donauufers eingerichtet: ein Büro für nützliche Fiktionen, ein Bahnhof und Flugplatz für neue Er­zählungen. Gloria Meynen und Gaby Hartel geben einen Vorgeschmack auf das Symposium mit dem Titel Dass die Welt auf ON springt. Utopien nach dem Stillstand. Und beleuchten hier Utopien, die es bereits vor dem Stillstand gab.

Das Festival FMR bietet digitale Kontexte. Bild Giacomo Piazzi / LINZ FMR

Utopien sind Orte, die man nur im Gedanken bereisen kann. Sie sind häufig durch das Meer vom Festland getrennt. Die Pandemie ist indes der Pazifik – das stille Meer, das Magellan in sechs Monaten und zwanzig Tagen durchquerte „mit nichts als Himmel und Salzwasser vor Augen“. Kein Ort, ein Zustand. Sie lässt uns müde und ratlos zurück, ganz so als blickten wir auf ein Meer ohne Inseln. Eine wüste, salzige Welt, soweit das Auge reicht. Der Schriftsteller Samuel Beckett hat in seinen Stücken, den späteren Prosatexten und Fernsehgedichten immer wieder den erzwungenen Rückzug in eine verwüstete Landschaft, in ein Zimmer, in einen Kopf oder Mund durchgespielt. Die Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre lasen die kargen Weiten als atomare Trümmerfelder. Ab den Siebzigerjahren erinnerten die Gesichter der wüsten Landschaften und starren Figuren zunehmend an die Seelenzustände Traumatisierter. So verstörend wie Becketts Figuren zunächst wirken mögen, in den späteren Werken blitzt in Momenten der Lähmung und des Stillstands häufig die Möglichkeit einer Erzählung auf, einer Erinnerung und Reise im Kopf – starr und erschöpft beginnen sie zu träumen. Sie reisen in ein Land, das man nur im Gedanken erreichen kann. Also eine Utopie? Beckett würde es gewiss anders nennen. Ein Fenster in eine andere Welt? Eher ein erinnertes Bild, ein Ausblick, entstanden im Kopf seiner Figuren, in der Stille, die sie umgibt, der Starre, die sie befallen hat. Jede Generation liest Beckett anders, jede Zeit entwirft mit Becketts Texten eigene Bilder und Räume im Kopf. Von heute aus gesehen scheint es fast, als habe Beckett uns mit diesen Situationen Erzählexperimente und Übungsräume hinterlassen wollen. Können wir aufbrechen, die eigenen Innenwelten verlassen, um die Welt in zahlreichen Alternativen aus der Gegenwart, dem Meer der Erinnerung auftauchen zu lassen?

Die Gesichter verpixelt, die Bewegungen eingefroren. Ein Zimmer, ein Fenster. Und noch ein Fenster. Kein Ausblick, sondern ein Einblick in Fenster und fremde Zimmer. Die Gegenwart ist ein Warteraum zu noch mehr Zimmern und Fenstern, ein Leben in der Warteschleife. „Nichts … nichts … und wieder nichts“. So lautet auch Clovs Fazit in Samuel Becketts zweitem Theaterstück Endspiel, als er durchs Fernrohr den Ozean vor seiner Bleibe betrachtet. Und auch das Land auf der anderen Seite seines Beobachtungsfensters gibt nichts anderes her als einen gesichtslosen Nicht-Ort, irgendwo in einem grenzenlos sich ausdehnenden Nirgendwo. Nichts geschieht, außer, dass die Figuren Sprachfloskeln wiederholen, den Alltag in leeren Ritualen einrichten. Keine Frage: Clov und drei weitere Bewohner*innen eines nicht näher beschriebenen Schutzraums sitzen fest, auf einer Insel, die Zeit fließt zäh vorbei. Zwar spüren sie vage, dass „etwas seinen Lauf nimmt“, doch sie haben keinen Einfluss auf diese minimal kleine Entwicklung, sondern verharren im Warten darauf, dass ihre Situation einfach aufhören möge. Ihre Vorläufer in Becketts erstem Stück Warten auf Godot hängen auf einem kargen Plateau herum, müde und entmutigt, in der Hoffnung, dass ein Herr Godot sie abholt und in die alte Zeit wie den gewohnten alten Raum zurückbringt.

Wo liegt die alte Zeit? Wo ist der alte Raum begraben? Auf Godot warten wir immer noch. Und das schon ziemlich lang. Als Watts Erfindung das Reisen um 1840 unter Dampf setzte, sahen wir Godots Schatten, wenn auch nur einen Rockzipfel lang. Je engmaschiger die Linien der Eisenbahnen, Dampfschiffe und Flugzeuge die Welt umrundeten, desto mehr schwand seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert die Überzeugung, dass Reisen ein Ziel, ein Stachel, ein Duft, ein Versprechen, eine einmalige und überraschende Erfahrung sei. Wartete man früher ungeduldig, dass die Reise begann, so glich von den ersten Eisenbahnnetzen bis zu Ryan Air das Reisen bald mehr dem Warten. Und das nicht nur an der Bushaltestelle, dem Security Check, in der Abfertigungshalle – sondern, Knie an Sitz, im Flugzeug, ohne jedes Gespür für Raum und Zeit. Jules Vernes Roman In 80 Tagen um die Welt hat das Warten sogar auf das Titelblatt gehoben. Wir warten 80 Tage, bis Phileas Fogg um den Erdball einen exakten Kreis gezogen hat – nach 37 Kapiteln den Zirkelschlag in der Savil Row, London, vollendet hat. Fogg, mehr Uhrwerk als Mensch, hat stets die kürzeste Verbindung gesucht. Ihn quälen weder Fernweh noch Neugier. Die Weltkarte kannte er auswendig, alle Wege waren ihm bekannt, die Ferne vertraut. „… und war ein Ort auch noch so weit entfernt, Phileas Fogg schien detaillierte Kenntnisse über ihn zu besitzen“. Der Blick in den Fahrplan nimmt die Ankunft schon vorweg. Jules Vernes Manuskript enthält die Abschrift eines Fahrplans. Mit Bradshaws Continental Railway Guide hat er die Reiserouten seiner Figuren in einem fiktiven Reisebüro geplant und gebucht. Seine Figuren reisen nicht, sie kommen an. Pauschalreisen, Postkarten, Fahrpläne und selbst der Lonely Planet, die Reiseführer für Individualreisende haben alle möglichen Routen, auf denen man den Erdball umrunden kann, schon durchgespielt. Soweit wir auch reisen – am fernsten Ort der Erde wurden wir vor der Pandemie schon erwartet, ehe wir einen Gedanken in die Ferne setzen können.

Der britische Schriftsteller Herbert George Wells, Essayist, Zukunftsforscher und auflagenstarker Vertreter der beschleunigten Fortbewegung, bezeichnet schon um 1900 die dampfbetriebenen Schwellen der Eisenbahnen und Schiffe Greater Britains als „transistory empires“. Ephemere Königreiche halten die Fremde auf Abstand. Eisenbahnabteile und Schiffskabinen sind Transiträume, provisorische Königreiche auf Zeit. Sie schicken das Empire auf Reisen, die die Inselbewohner*innen bis an die Enden der Welt transportieren. Die Folgen der Kolonialisierung haben sie nie am eigenen Leib erfahren müssen. Reiseabteile sind häufig Rückzugsorte – Schutzräume, die jene gegen die vermeintlichen Gefahren der Fremde isolieren soll, die die gleiche Sprache sprechen, dieselbe Hautfarbe besitzen, die Geld und Herkunft verbindet. Michel de Certeau findet in den reisenden Zimmern der transistory empires Spuren von Dürers Melancolia: „Im Innern die Unbeweglichkeit einer Ordnung. Hier herrscht Ruhe und wird geträumt. […] Draußen, eine andere Unbeweglichkeit, die der Dinge: aufragende Gebirge, weitläufige Grünflächen, stillstehende Dörfer, Gebäudereihen, schwarze Silhouetten im Gegenlicht der Sonne, das Glitzern von nächtlichen Lichtern auf dem Meer, das vor oder nach unseren Geschichten liegt“. Die Innenwelten der Fortbewegung sind Zeitkapseln, in denen die Geschwindigkeit gegen Null tendiert. Vor dem Stillstand reisten wir in Zeitkapseln, unsere Komfortinseln mussten wir nur selten verlassen.

Die Königreiche des Transits hat der Anthropologe Marc Augé „Nicht-Orte“ genannt und damit die ephemeren Schwellen und Zonen des Übertrags mit einer Negation bezeichnet. Die Nicht-Orte erschaffen eine Welt, „in der die Anzahl der Transiträume und provisorischen Beschäftigungen unter luxuriösen oder widerwärtigen Bedingungen unablässig wächst (die Hotelketten und Durchgangswohnheime, die Feriendörfer, die Flüchtlingslager, die Slums, die zum Abbruch oder zum Verfall bestimmt sind), … eine Welt, die … der einsamen Individualität, der Durchreise, dem Provisorischen und Ephemeren überantwortet ist“. Die Welt als Durchreise ist ein Nicht-Ort. Eine gesichtslose Schwelle, die selbst kein Ort ist, aber Orte verbindet, Beziehungen zu neuen Orten herstellt und verwaltet. Nichtorte sind Flughäfen, Bahnhöfe, Raumstationen, Drive-Ins, Freizeitparks und Einkaufszentren, so Augé, Orte, die jetzt seit über einem Jahr verwaist und leer sind.

Die ersten Autoren der Science-Fiction, Jules Verne und H. G. Wells, haben sich in den Warteräumen der Beschleunigung eingerichtet, die Vestibüle der Dampfmaschine mit Fauteuils, Aquarien und Kristalllüster möbliert. In Von der Erde zum Mond werden Vernes Figuren in einem Kanonenrohr zum Mond geschossen, in 20.000 Meilen unter den Meeren reisen die Passagiere der Nautilus auf einer dampfbetriebenen Schwelle. Draußen fliegende Landschaften, drinnen erstarrt die Zeit. Der Stillstand war schon vor dem Stillstand da, ein Effekt einer zunehmenden Beschleunigung, der mit den modernen Reisen aufkam. Doch jetzt ist alles anders. „Zusammenfahren ist lange her, wir fahren allein“, singen im Mai 2021 zahllose Busfahrer*innen der Berliner Verkehrsbetriebe in einem Werbespot. Seitdem die Pandemie die Innenwelten der transistory empires nach außen gekehrt hat, ist der Stillstand weder Ruhe noch Rückzugsort, sondern rasende Vernetzung: Kein Tag ohne blassblau erleuchtete Gesichter. Ein Zimmer, ein Fenster. Und noch ein Fenster. Die Fortbewegung in den rasenden Zimmern, den transistory empires, ist ein Reisen in und um die Zimmer gewichen. Die Träume der Innenwelten sind zerschlissen. Die Mythen der Beschleunigung können uns nicht mehr erreichen. Die Vermutung, dass seine Nicht-Orte mit den Utopien verwandt seien, die seit der Antike einsame Inseln bewohnen, hat Marc Augé 2019 auf einer Wiener Bühne fahrig zurückgewiesen. Seine Nicht-Orte kann man nicht nur im Gedanken, sondern mit Ticket und Koffer bereisen. Augé hat im Weichbild des Mauerfalls, jenem Augenblick, in dem die letzten Inseln des Reiseverbots vom Erdboden verschwanden, die Metamorphose der Orte und Nicht-Orte, das Provisorische und das Ephemere, die „verworrenen“ Spiele der Identität und Relation, als Gegenstand für eine Ethnologie der Nähe beschworen. Die Nähe ist eine wunderbare Insel, die wir seit wenigen Tagen wieder erreichen können.

 

Biennales Kunst-Festival FMR 21 – Kunst in digitalen Kontexten
1.–6. Juni, Mühlkreisbahnhof Linz-Urfahr
Heuer findet die zweite Ausgabe von FMR, dem biennalen Festival für Kunst in digitalen Kontexten und öffentlichen Räumen, statt. Mit FMR 21 wird das Areal rund um den Linzer Mühlkreisbahnhof von internationalen und lokalen Künstler:innen in einen Festivalraum verwandelt. Der Hauptteil des Programms besteht aus einer Ausstellung im öffentlichen Raum. Zu sehen sind Arbeiten aus den Bereichen Bildende Kunst, Medienkunst, Internet Art und Performance. Das Festivalprogramm umfasst außerdem eine Reihe von Künstler:innengesprächen, eine Aufführung von aufgezeichneten und live gestreamten Konzerten – und ein hochkarätig besetztes Symposium.

Symposium
Dass die Welt auf ON springt. Utopien nach dem Stillstand.
4.–6. Juni 2021, FLUT – Freiluft­universität am Urfahraner Marktgelände
Die Abteilung Medientheorien an der Kunstuniversität Linz ergänzt FMR 21 um ein Symposium, u. a. besetzt mit Richard Sennett, Gloria Meynen, Thomas Macho, A K Dolven, Adam Merki und weitere Expert:innen. Sie werden über Utopien nach dem Still­stand sprechen. Das Symposium findet von 4. bis 6. Juni 2021 in Verschränkung mit der „Open University“ der Kunstuniversität Linz statt, am Urfahraner Marktgelände.

linzfmr.at/de

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About the author

Gloria Meynen ist Professorin für Medientheorien an der Kunstuniversität Linz, zu Jules Verne ist 2020 erschienen Inseln und Meere, Zur Geschichte und Geografie fluider Welten, Matthes & Seitz Berlin. Gaby Hartel arbeitet als freie Kuratorin, Radio­macherin, Kunstkritikerin und Übersetzerin in Berlin und London.

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