Loading...
You are here:  Home  >  Kunst und Kultur  >  Current Article

Eine Idee reist durch Zeit und Raum

By   /  1. Dezember 2022  /  No Comments

    Print       Email

Die Referentin bringt seit längerer Zeit eine Serie über frühe soziale Bewegungen und emanzipatorische Entwicklungen. Andreas Gautsch über den kommunistischen Anarchismus als Idee zwischen „dem Besten aus beiden Welten“ und einer „Horrorvorstellung zum Quadrat“.

Lucy Parson, eine afro-amerikanische Organizerin und Anarcho-Kommunistin, anno 1886. Foto Luis Gogler, Wikimedia Commons / Univeristy of Michigan Library

Für manche bedeutet kommunistischer Anarchismus das Beste aus beiden Welten. Für andere ist er eine Horrorvorstellung zum Quadrat. Objektiv betrachtet kommt diese Gesellschaftsvorstellung der aufklärerischen Trias von Freiheit, Gerechtigkeit/Solidarität und Gleichheit wohl am nächsten.

Eine Idee liegt in der Luft
Die Entstehungsgeschichte dieser Idee oder Konzeption geht zurück ins 19. Jahrhundert. Max Nettlau, der in dieser Serie bereits vorgestellte anarchistische Historiker und Chronist, berichtet, dass die Bezeichnung kommunistischer Anarchismus erstmals in einer Broschüre von François Dumartheray im Jahre 1876 auftauchte. Der Autor war in der Genfer Sektion L’Avenir aktiv und stand dem russischen Anarchisten Peter Kropotkin nahe, der sich in mehreren Schriften dieser neuen Anarchismuskonzeption widmete und heute als der bekannteste Vertreter bzw. Theoretiker dieser Richtung gilt. Zur Zeit der Entstehung war die anarchistische Bewegung aus der von Karl Marx, Friedrich Engels und anderen autoritären Sozialisten übernommenen Internationalen Arbeiterassoziation bereits ausgeschlossen. Sie hatte den Kampf gegen Vertreter des Zentralismus verloren. Der Sozialismus und die Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiter:innen sollte ganz im Sinne sozialdemokratischer bzw. sozialistischer Parteien, die sich auf Wahlkämpfe und den Parlamentarismus konzentrierten, erreicht werden. Im Anarchismus setzte eine Neuorientierung ein. Bakunin, als wortmächtiger Propagandist des antiautoritären Flügels und Vertreter des kollektivistischen Anarchismus, hatte sich bereits zurückgezogen. Eine neue Generation war nun an der Reihe und mit ihr entstand nun eine Symbiose aus Kommunismus und Anarchismus.

Kommunismus und Anarchismus
Was bedeutet dies nun? Während im kollektivistischen Anarchismus Eigentum in einer kollektiven Form weiterbestehen konnte, wurde im kommunistischen Anarchismus jegliche Eigentumsform negiert. Statt Eigentümer:innen sollte es nur mehr Nutzer:innen geben. Die Verteilung der gesellschaftlich produzierten Güter erfolgt nicht nach Arbeitsleistung (Arbeitszeit), sondern nach den Bedürfnissen. Kommunismus bedeutet somit: Jeder nach seinen Bedürfnissen und Möglichkeiten. Für Kropotkin ist der kommunistische Anarchismus „ein Sprössling der zwei großen Gedankenbewegungen auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet, die unser Jahrhundert und besonders seine zweite Hälfte charakterisieren. Gemeinsam mit allen Sozialisten vertreten die Anarchisten die Ansicht, daß das Privateigentum an Grund und Boden, am Kapital und an den Maschinen überlebt ist, daß es zum Verschwinden verurteilt ist und daß alle für die Produktion erforderlichen Mittel in den gemeinschaftlichen Besitz der Gesellschaft übergehen müssen und werden und von den Produzenten die Reichtümer gemeinschaftlich zu verwalten sind.“ Kommunismus bezieht sich also auf die Ebene der Ökonomie. Wie ist nun der zweite Teil des Begriffs, der Anarchismus zu verstehen? Für Kropotkin ist er das Ideal einer politischen Gesellschaftsorganisation, „wo die Funktionen der Regierung auf ein Minimum reduziert sind und das Individuum seine volle Freiheit der Initiative und der Handlung wiedergewinnt, um vermittels freier Gruppen und frei gebildeter Föderationen all die unendlich mannigfaltigen Bedürfnisse des menschlichen Wesens zu befriedigen.“ Es geht um eine Regierungsform ohne staatliches Herrschaftsprinzip.

Eine Idee unter Kritik
Die Frage, die sofort auftaucht, ist, kann das überhaupt funktionieren? Kropotkin dachte – ja! Sein Ausgangspunkt war menschliche Kooperation, die gegenseitige Hilfe und der gesellschaftliche Reichtum, nicht der Mangel. In den verschiedenen Abhandlungen verweist er auf die fördernde Wirkung von föderativer und dezentraler Produktion, von freier Assoziation, sowie darauf, dass aufgrund des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts die industrielle und landwirtschaftliche Produktion alle Menschen ausreichend versorgen könnte.
Nach Kropotkin wären bereits vor gut 150 Jahren die Voraussetzungen gegeben, mit einem Bruchteil an Arbeitsaufwand, alle Menschen zu versorgen. Das würde heute noch mehr zutreffen, jedoch mit Sicherheit wissen wir es nicht. Von Anbeginn gab es auch kritische Stimmen zu Kropotkin und seiner Vorstellung vom kommunistischen Anarchismus. Nettlau berichtet in seinem Geschichtskompendium über Anarchismus von der Kritik des spanischen Anarchisten Richardo Mella, der die „kommunistische Lösung“ für „simplistisch und den Verwicklungen des sozialen Lebens nicht entsprechend“ hielt, aber er glaubte auch, dass die Idee den Massen gefallen wird. Jedoch geben Ideen höchstens Tendenzen an und zeigen nicht, wie es Kropotkin ausformulierte, wie zukünftige anarchistische Gesellschaften Produktion und Distribution organisieren werden. Mella richtete sich gegen die „Unifizierung“ der Ideen und Vereinheitlichung der Methoden. Was auf jeden Fall notwendig ist, ist für ihn eindeutig: „die Gleichheit der Mittel zum Leben“. Während die neue Richtung in anarchistischen Kreisen in ganz Europa diskutiert und unter dem Proletariat und den Deklassierten agitiert wurde, ging die Idee auf Reisen.

Lucy Parson in Chicago
Wir verlassen Europa und setzen über den Atlantik. Im späten 19. Jahrhundert gibt es dort eine radikale und organisierte Arbeiter:innenbewegung, geprägt von den unterschiedlichsten Einwander:innengruppen, Religionen und Hautfarben, oft war sie anarchistisch. Eine ihrer Akteur:innen war Lucy Parson, eine afro-amerikanische Organizerin und Anarcho-Kommunistin. Sie schrieb Artikel, hielt Reden, organisierte Genoss:innen, setzte sich für den 8-Stunden-(Arbeits)Tag ein und war Mitbegründerin der berühmten syndikalistischen Gewerkschaft in der USA, den Industrial Workers of the World, kurz: Wobblis. Sie lebte die meiste Zeit ihres Lebens in Chicago, starb dort 1942 fast 90jährig. Die städtische Polizei hielt sie für „more dangerous than a thousand rioters“, selbst nach ihrem Tod muss das FBI noch voll Sorgen gewesen sein, vergriff es sich doch vorsorglich an ihrem gesamten Nachlass, der bis heute verschwunden ist. Im Jahr 1886 kam es, auch für Parson, zu einem folgenreichen Ereignis. Am 1. Mai protestierten streikende Arbeiter:innen, diese wurden von der Polizei angegriffen, ein Bombe explodierte in der Menge und es gab viele Dutzende Verletzte und Tote. Die Polizei verhaftete daraufhin sieben Männer, alle aktive Gewerkschafter und Anarchisten und verurteilte sie zu Tode, obwohl keine Verbindungen zum Bombenattentat nachgewiesen werden konnten. Einer davon war ihr Mann Albert Parson. Der 1. Mai gilt seitdem, in Erinnerung an Haymarket, als Kampftag der Arbeiter:innenklasse. Lucy Parson setzte sich ein Leben lang für die Rehabilitierung der Verurteilten ein. Im Oktober 1886 wurde sie zu den Aussichten des Anarchismus in den USA interviewt. Auf die Frage, wie der gesellschaftliche Wandel herbeigeführt werden kann, meinte sie, dass es eine revolutionäre Phase geben wird, in der der „letzte große Kampf der Massen gegen die Geldmächte“ stattfinden werde. „Geld und die Löhne, die sich jetzt im Besitz der Lohnklasse befinden, stellen das Nötigste zum Leben dar; nichts bleibt übrig, wenn die Rechnungen von einer Woche zur anderen bezahlt sind. Der Rest geht an die profitgierigen Klassen, und deshalb nennen wir das System Lohnsklaverei.“ Die Frage, ob sie friedlich verlaufen wird, beantwortet Parson: „Ich glaube nicht, denn die Geschichte zeigt, dass jeder Versuch, den Reichen und Mächtigen das zu entreißen, was sie haben, mit Gewalt gemacht wurde.“

Zabalaza in Johannesburg
Anders als beispielsweise Individualanarchist:innen sehen kommunistische Anarchist:innen eine höhere Notwendigkeit darin, sich politisch zu organisieren. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts gründeten sie sogenannte Plattformen. Bis heute werden diese immer wieder aufs Neue gegründet, sowohl auf nationaler als auch internationaler Ebene, um gemeinsam im Sinne des kommunistischen Anarchismus zu wirken. Eine aktuelle plattformistische Gruppe ist die südafrikanische Zabalaza Anarchist Communist Front, kurz ZACF. Sie bekennt sich zur Idee der aktiven Minderheit, was so viel bedeutet, dass es nicht ihr Ziel ist, eine anarchistische Massenbewegungen aufzubauen oder soziale Bewegungen in eine solche zu transformieren, sondern sich als anarchistische Gruppe an sozialen Bewegungen zu beteiligen. So unterstützte die ZACF das Anti-Privatisation Forum oder die Landlosenbewegung (Landless People’s Movement) in Südafrika. Als es 2008 vermehrt zu rassistischen Pogromen kam, bei denen mehr als 60 Menschen getötet wurden, wurde die Coalition Against Xenophobia (CAX) gegründet, bei der ZACF ebenfalls eine wichtige Rolle einnahm. Es geht also nicht nur um die Verbreitung der Idee, sondern um politisches Engagement in sozialen Bewegungen und Arbeitskämpfen. In ihren Berichten und Darstellungen schreibt ZACF, dass es sich um eine kleine Gruppe handelt und es schwierig ist, Menschen für die Idee zu gewinnen. Die anarchistische Tradition ist in Südafrika vergessen. Begonnen hatte sie einst in den 1880er Jahren, als englische Emigrant:innen die Idee mitbrachten, beeinflusst von Kropotkin und dem kommunistischen Anarchismus. Und so reist eine Idee durch Zeit und Raum.

Literatur:
Kropotkin, Peter: Der anarchistische Kommunismus. Seine Grundlagen und seine Prinzipien, Berlin, 1922
Nettlau, Max: Die erste Blütezeit der Anarchie 1886 – 1894. Geschichte der Anarchie. Band IV.
Rosenthal, Keith: Lucy Parson. „More Dangerous Than a Thousand Rioters“, joanofmark.blogspot.com/2011/09/lucy-parsons-more-dangerous-than.html?m=1#_edn61
An Interview with Lucy Parsons on the Prospects for Anarchism in America, Published in St. Louis Post-Dispatch, Oct. 21, 1886, pzacad.pitzer.edu/Anarchist_Archives////////bright/lparsons/LParsonsInterviewStL.pdf
zabalaza.net

Die Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch bzw. der Gruppe Anarchismusforschung entstanden, siehe auch: anarchismusforschung.org

    Print       Email

About the author

Institut für Anarchismus­forschung, siehe auch anarchismusforschung.org

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert