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Die Illusion eines mexikanischen Matriarchats

By   /  1. Juni 2023  /  No Comments

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In Medien und Dokumentationen wird Juchitán gerne als Matriarchat dargestellt. Mit dem Ziel, dies zu erleben und künstlerisch zu bearbeiten, flog die Linzer Künstlerin Elisa Andessner mittels eines Stipendiums in diese südmexikanische Stadt. Dort musste sie sich allerdings mit einer ernüchternden Realität abfinden: In der gepriesenen Stadt herrschen alles andere als paradiesische Zustände für Frauen. Silvana Steinbacher hat nachgefragt.

In Juchitán de Zaragoza würde sie ein Paradies für Frauen vorfinden. Mit dieser Vision vor Augen hat sich die Linzer Künstlerin Elisa Andessner auf ihren Aufenthalt in der südmexikanischen Stadt gefreut. Im Land der Machos regierten also zumindest hier starke Frauen. Elisa Andessner plante vor ihrer Abreise, das Matriarchat in Juchitán mit rund 100.000 Einwohner:innen in einem Projekt zu erforschen und dieses Phänomen künstlerisch umzusetzen. Durch ein Residency-Programm der Oberösterreichischen Landes Kultur-GmbH verbrachte sie zunächst eine Woche in Juchitán.
Nach ihrer Ankunft wurde sie jedoch sogleich mit einer anderen Realität konfrontiert. Bereits ihr Alltag war schwierig zu bewältigen: Elisa Andessner musste die meiste Zeit ihres Aufenthalts im Hotel verbringen, da es auf den Straßen, nicht nur für Frauen, aber für diese besonders, sehr gefährlich ist. Supermärkte sind verbarrikadiert, und ein Einkauf erfolgt, indem Bestellungen durch ein Gitter gereicht werden. Das Leben ist fast in jeder Situation gefährlich, Vertrauen auch unter Einwohner:innen und sogar Freund:innen kaum möglich. Vor allem aber stellte sich der Mythos des gepriesenen Matriarchats bald als Illusion heraus.

Wie viele andere Feministinnen, und nicht nur diese, spürt auch Elisa Andessner die Sehnsucht nach einem Matriarchat nach Jahrtausenden des Patriarchats, doch die Künstlerin ist keineswegs naiv. Vor ihrem Aufenthalt hat sie recherchiert und wurde auf seriöser Basis fündig. Die deutsche Soziologin und Ethnologin Veronika Bennholdt-Thomsen verfasste ein Buch über das angebliche Matriarchat (Juchitán. Stadt der Frauen), einige Medien, wie Der Standard (24. 05. 2000) oder Ö1 (Journal Panorama 04. 08. 2008, Hörbilder, 09. 05. 2020) berichteten neben anderen über die privilegierte Rolle der Frau in Juchitán.

Bei Elisa Andessners Schilderungen schweifen meine Gedanken kurz ab. Ich denke an die Situation in Österreich. Ich erinnere mich, dass mir meine damalige Freundin in der Volksschule erzählt hat, dass ihre Mutter gerne wieder arbeiten möchte, aber deren Ehemann verweigere ihr die Erlaubnis dazu. Ich denke an Situationen widerlichen patriarchalen Verhaltens, sexistischer männlicher Übergriffe und der Ausbeutung der Frauen am Arbeitsplatz. Mir kommen die wiederkehrenden Berichte über Femizide in den Sinn. Das sind nur einige Beispiele aus Österreich. Ich bin neugierig, was mir Elisa Andessner aus Mexiko erzählen wird.

Schon in den ersten Tagen ihres Aufenthalts in Juchitán hat Elisa Andessner feststellen müssen, dass sich ihre Nachforschungen zu Hause mit der Realität vor Ort nicht im Geringsten deckten. Daher blieben ihr nur zwei Möglichkeiten: die Rückreise anzutreten oder vor Ort zu eruieren, wie sich das weibliche, das familiäre Leben in dieser Provinzstadt tatsächlich abspiele. Sie entschied sich für Letzteres. Elisa Andessners Beschäftigung mit Feminismus zieht sich durch ihre künstlerische Arbeit. Sie ist Bildende Künstlerin und Kuratorin von Ausstellungen und internationalen Austauschprojekten. Unter anderem rief sie 2020 das Projekt PIRATE WOMEN ins Leben, erstellte im Rahmen dessen Gruppenfotos, die sich mit der Erweiterung von traditionellen Frauenbildern beschäftigen. Dieses Projekt verfolgt das Ziel, der visuellen Unterrepräsentanz von Frauen im kollektiven Bildarchiv entgegenzuwirken. In eine ähnliche Richtung geht eine Arbeit in Teheran, bei der Andessner dreißig Frauen die Frage stellte: „Was ist deine Botschaft? Was hast du zu sagen?“ und sich dann einige der Antworten auf Farsi ins Gesicht schrieb. Die Künstlerin sucht die direkte Kommunikation mit Frauen vor Ort und setzt die Resultate in kreative Präsentationen um.

Kehren wir nach Mexiko und zu den Schilderungen der Künstlerin, die mir hier als Basis dienen, zurück. „Das idyllische Bild von der Freiheit und Autonomie der Frauen konnte die Betrachterin oder der Betrachter nur gewinnen, wenn der Blick flüchtig ist und sich die Sehnsucht nach dieser Lebensform erfüllen sollte“, mutmaßt Elisa. Die Frau ist zwar verantwortlich für das Familieneinkommen, doch hinter der vermeintlichen Freiheit und Autonomie verstecken sich Doppelbelastung und vor allem Abhängigkeit, denn der Arbeitsalltag in den Familien sieht meist so aus: Die Frauen in Juchitán verarbeiten die Lebensmittel, die ihre Männer vom Feld und vom Meer nach Hause bringen und verkaufen sie am Markt.
„Die Ökonomie gestaltet sich wie ein großer Haushalt, dem die Männer zuarbeiten.“ So die Schilderung in einem seriösen Medium, doch betrachten wir es mit einem realen Blick: Ohne die Arbeit der Männer sind die Frauen ihrer Erwerbsgrundlage enthoben, also wieder von ihren Männern abhängig. Kunst, Politik und Kultur sind ausschließlich Männersache, wie das im patriarchalen Jargon benannt wird. Frauen sind lediglich die Verwalterinnen der Macht, was mit viel Arbeit verbunden ist, die Machthaber sind die Männer.
Vier Wochen Zeit, aber was tun, wenn sie das Hotel kaum verlassen kann? Vor dieser Frage stand die Künstlerin recht bald. Auf ihren „Hilferuf“ auf Facebook meldete sich ein Mexikaner und begleitete sie ohne finanzielle Forderungen mehrere Tage durch Juchitán und Umgebung. Dadurch erst war es ihr möglich, die Stadt kennenzulernen und vieles über deren Kultur zu erfahren. Trotz dieses Glücksfalls fühlte sie sich in einer Art Abhängigkeit zu ihrem Guide und so entschloss sie sich, die restlichen drei Wochen ihres Stipendiums in Oaxaca des Juarez, der um einiges größeren Hauptstadt des Bundesstaates Oaxaca zu verbringen. Dort erst konnte sie Interviews mit Aktivistinnen, Feministinnen und Künstlerinnen führen, mit ihnen unter anderem über das gegenwärtige Leben der Frauen in Mexiko sprechen und ihnen die Frage stellen, was sich ändern müsste, damit Mexiko ein guter Ort für Frauen würde.
Als Elisa Andessner sich in Oaxaca allein auf den Weg machte, sind ihr an beinahe jeder Straßenecke Indizien des Femizids begegnet. Fotos mit der Unterschrift „Wo ist …“ zeugen davon, dass Frauen einfach verschwinden.
Bei eigenen Recherchen zu diesem Thema stoße ich auf ein Foto, das mir tagelang nicht aus dem Kopf geht. Auf einem Platz liegen Frauen in einem enganliegenden schwarzen Ganzkörperanzug, der Kopf ist mit einem roten Tuch verhüllt, das an eine Rose erinnern könnte. Die Frauen des Kollektivs Rabia protestieren mit dieser Aktion gegen die elf Frauenmorde, die täglich in Mexiko registriert werden, eine entsprechende Dunkelziffer ist zu befürchten. Die Zahl der Femizide in Österreich ist beschämend hoch, doch sogar in Relation zur Zahl der Einwohner:innen sind sie mit Mexiko nicht zu vergleichen. Was sich auch unterscheidet, ist der Wille zur Aufklärung, der in Mexiko kaum vorhanden ist. Mörder, und hier ist es nicht notwendig zu gendern, werden nicht zur Verantwortung gezogen. Der Vollständigkeit halber muss gesagt werden, dass dies auch bei einem Mord an einem Mann kaum anders verläuft, aber die Anzahl der männlichen Morde ist wesentlich geringer.

Elisa Andessners Projekt wird ein umfassendes. Die sieben Interviews – eines mit einem Psychologen – in Mexiko, ergänzt sie zurzeit mit weiblichen Perspektiven in Linz und Wien. Mit den Videointerviews plant Andessner eine Installation und eine Ausstellung. Ihr Selbstverständnis als Künstlerin geht, so erzählt sie, über die Kunst als solche hinaus, sie sieht sich auch als gesellschaftliche Akteurin und interkulturelle Vernetzerin.
Dass sich möglicherweise etwas in Mexiko sehr langsam zu bewegen beginnt – bei aller Bescheidenheit der Betrachtung – ist am Internationalen Frauentag in Oaxaca und auch im ganzen Land zu beobachten. Lärmend, und sogar Auslagen zertrümmernd ziehen die Frauen durch die Straßen und machen alljährlich ihrer aufgestauten Wut Luft. Nächstes Mal will Elisa Andessner dabei sein. Im März 2024 will sie für mindestens drei Wochen in Oaxaca bleiben, die Proteste filmen und dokumentieren.
Die meisten fragen sich nach einem längeren Aufenthalt in einem weit entfernten Land, welche persönlichen Erfahrungen sie mitbringen, möglicherweise sogar, inwiefern sich eigene Sichtweisen verändert haben. Elisa Andessner hat ihren europäischen Blickwinkel, wie sie ihn nennt, reflektiert, will mit mehr Offenheit auf ihr fremde Menschen und Kulturen, auf Neues zugehen. Doch ich vermute, diese Offenheit ist keine in Mexiko erworbene Seite der Künstlerin, sondern sie war wohl davor schon Teil ihres Zugangs zur Kunst und zur Welt.

 

Mehr zu Elisa Andessner: www.elisaandessner.net
Inkl. Interview im Menüpunkt „Downloads“.

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About the author

ist Autorin und Journalistin.

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