Bücher als Materialkorpus, der Hörtext Rose Intelligence: Den umfangreichen Vorlass VALIE EXPORTs liest Mayer wie einen beispielhaften, feministischen Werkkörper, der zu neuen Verlinkungen anregt – eine Herstory of Media Art.
Das VALIE EXPORT Center beherbergt die mehrere tausend Bücher umfassende Bibliothek VALIE EXPORTs. Katrin Mayer dokumentierte für sich, welche Bücher sie, während ihrer Aufenthalte im Center, aus dem Regal zog und kaufte einen Teil davon in Antiquariaten nach. Sie folgte dabei ganz unterschiedlichen Impulsen, aber auch Themen wie Feminismus, Computerentwicklung, Künstlicher Intelligenz und Hirnforschung. Diese Buch-Doubletten bildeten für Mayer einen Materialkorpus, den sie wiederum nach Sätzen durchkämmte, deren Aussagen und Plastizitäten ihr vielfach anschlussfähig erschienen. Derart freigestellt trugen sie weiterhin Einschreibungen ihrer Quellen, ließen sich jedoch durch Mayers Montage in neue Bezugsgewebe einbinden. Strukturell ähnelt dieser Arbeitsprozess der Funktionsweise einer KI, reist jedoch zurück in ein früheres, analoges Stadium, um von dort unseren technologisch geprägten Alltag sowie gesellschaftliche Verfasstheiten zu befragen.
Diese für die Ausstellung entstandene Arbeit mit dem Titel Rose Intelligence besteht aus 34 Büchern und einem Hörtext, 13 min. Den Text hat sie für die Referentin zur Verfügung gestellt.
Rose Intelligence
Damit kannst Du aber nicht berühmt werden
herausgelöst aus tausend alten Büchern,
die lesen zu wollen überhaupt keinen Sinn mehr hat,
stellen diese Seiten mit ihren Bildern,
getrennt von jenen Seiten mit ihrem sterblichen Text,
auf den sie einmal bezogen waren,
eine Anzahl so irreführender Mutmaßungen dar, daß sie kostbar werden
wie die minutiöse Rekonstruktion eines Verbrechens,
dessen Zeuge wir im Traum waren,
ohne uns im geringsten für den Namen des Täters oder für seine Motive zu interessieren
wie eine Rekonstruktion nicht von Heroinen, sondern von Situationen, Sinnstrukturen und Diskurspraktiken
Ein Abenteuer das aufs Neue beginnen konnte
Denn an Bord herrschte jetzt eine andere Stimmung
wenigstens auf dem Papier fanden sehr unterschiedliche Frauen
zueinander,
was die persönliche Vergangenheit wie die soziale Herkunft betrifft
Ich hoffe, dass diese Unterschiede keineswegs durch falsche
„Verschwisterung“ verwischt werden
Die Wasserträgerinnen und Fischerinnen, die Flamenco-Tänzerinnen und Perlentaucherinnen, alle kamen sie herbei
Sie übten sich im Fechten und Entern, schossen mit Revolvern
oder versuchten, mit zwei Messern zu kämpfen
damit die Erfahrungen ein gemeinsamer Besitz werden, ein Erbe, das wir einander weiterreichen
als Erinnerungen daran, was es einst hieß, weiblich zu sein,
eine Frau in einer Welt der Männer
wir können rufen „Freiheit für unsere Schwestern!“, bis wir umfallen
Sie werden nicht umfallen
Hier bekommt man eine Ahnung davon, auf was man sich eingelassen hat
Beim Weiterblättern fällt mehr auf
das alle überziehende Gewebe von einräumenden Zugeständnissen
von Teilerlaubnissen und Teilfreiheiten und Teilanerkennungen
das was fehlt: symptomatische Lücken
Denn mit dem mehr oder weniger großzügig gewährten Freiraum
wurden zugleich seine Grenzen umso deutlicher festgeschrieben
Was blieb stumm
Im Salon, im Wochen-Bett, auf der Straße, in der Schule, in der Fabrik, in der Kunst, in der Politik?
Welches Objekt aber bekamen die Reden in den Griff?
Sie wird zu etwas gemacht: zum Mythos, zum Rätsel, zum Nichts, zum Alles, zur Verrückten, zum weißen Fleck, zum dunklen Kontinent
Lulu, Megäre, Sphinx, Maria, Mutter, Venus, Eva
Seufzer des Artikels
sie hat die „Ismen“ längst aufgegeben
Frauen, die schreiben, sind von vornherein Dissidenten
die anarchisch herausfallen
Wie sprechen, um nicht mit der alten Sprache das neue Denken gleich wieder im Keim zu ersticken?
Ich erkannte durch Emma Goldman, dass ich keine Politikerin war und keine Autobiografie schreiben konnte
sie zögerte nie, nicht einmal im Knast
ich zögere ständig, stelle alles infrage
Nun, ich kann es beispielsweise blitzen oder regnen lassen …
Alles natürlich nur in meiner Vorstellung, so jedoch, daß die Strahlen,
wie es mir scheint,
davon den Eindruck haben, als ob die betreffenden Gegenstände und Erscheinungen wirklich vorhanden wären
jene randständigen Schirmbilder, die nur scheinbar keinen Einfluss auf das Geschehen haben
Wie die Meisten beobachte ich den Mond sehr unsystematisch
um das Gefühl dafür zu schärfen, dass es ein Nichtdarstellbares gibt
einen Eigenbereich, einen Bereich des Nicht-Determiniertseins
Ich schwärmte damals für Software, für theoretische, gewichtlose
Substanzen,
eine zweite immaterielle Dingwelt
Weiche Ware
Wie lose Notizen, systematisierte Zettelkästen, Buchtitel ohne Bücher und Bücher ohne Titel
Was gesagt wird und was gemeint ist
Seufzer des Artikels
auch wenn sie auf den Bildtafeln fehlen
die über weithergeholten, gesperrten Sätzen aufleuchten.
Und Sie – erinnerst Du dich noch an die erstaunlichen Bemerkungen,
die sie an den Rand kritzelte?
Wir ergänzten einander gut
einen solchen Computer müsste man bauen können – mit Methoden, die wir uns allerdings heute noch nicht vorstellen können
Das Hirn als Maschine, die Maschine als Hirn
ein Computer des Endzustandes könnte davon überzeugt sein, dass er den Menschen programmiert hat
der Output ist das Resultat des Inputs
Alle diese Metakategorien sind damals aus unserem Gedankengut
herausexplodiert
Ich meine, ich habe keine Zauberglaskugel. Ich kann die Zukunft nicht sehen
es hat keinen Sinn zu fragen, ob wir die Computer wollen oder nicht
aber meiner Meinung nach gibt es eine Möglichkeit, künstliche
Intelligenz herzustellen
mit ganz anderen Techniken, die zum Teil aus der Biologie abgeschaut werden müssen
Warum nicht die Neuronen nutzen, die zu Lebzeiten die visuellen
Eingaben verarbeiten
also müsste eine Maschine ein Gehirn werden können
Klingt extrem materialistisch
Aristoteles soll angenommen haben, das Gehirn sei ein Organ, das der Kühlung des Blutes diene
Angenommen, wir hätten die Leber im Schädel und unser Gehirn wäre in unseren Brustkorb eingebettet
Ist die Vorstellung, wir könnten mit unserem Gehirn – diesem weichen, gräulichen blumenkohlförmigen Ding denken, nicht tatsächlich genauso Sinne verwirrend wie die Vorstellung, wir könnten mit unserer Leber denken – diesem weichen, rötlich-braunen Ding?
Jenes wunderbar-besessene Gehirn, dem es auf eine kleine Beunruhigung mehr oder weniger nicht ankommt
Eine Denk Schleife nach dem Möbius-Muster
Das endlos geflochtene Band
Ur-alt und immer zukünftig
Wir interpunktieren also den Fluss der Ereignisse in ganz bestimmter Weise
So werden sie mit den echten Hirngespinsten sehr schnell fertig
Wir hatten uns vorgestellt, daß ich eines Tages in einem Museum
herumschlenderte und daß ich plötzlich an der Wand neben dem
Porträt von Madame X etwas sähe, das ich sofort, aus zwanzig Meter Entfernung, als etwas von dir erkennen würde …
Ich sag Dir, damals war die Welt kugelrund und Du konntest rund
herumgehen
immer rund herum
… Dass die Bewegung eine Illusion ist … Dass die Bewegung eine
Illusion ist
So nahm sie also ihr Taschenmesser
sie würde einfach auf ihrem Stuhl stehen und rundherum immer
rundherum
aber nicht krumm
Rose ist eine Rose ist eine Rose ist eine Rose ist eine Rose
in die Rinde ritzen bis es ganz rundherum reichte
Endlich, endlich!
Worte, verpackt wie in Seidenpapier,
mit Farbstoff versetzt,
wir wissen, man kann uns nicht mehr auseinanderdividieren
Wir öffnen eine weitere Sechserpackung, um uns über die Nichtigkeit unserer jüngeren Ichs hinweg zu trösten
wie eine Spinne, die nicht nur im Hinblick auf ihren Körper eine Spinne ist – zu ihr gehört auch ihr Netz
sie ist eine Organisationsform
Die angeblich mittels der Einführung von Heterogenität, Diskontinuität und Glossolalie das Subjekt der Repräsentation in eine Krise stürzte
Das ist das Wichtigste
Es stellt sich nämlich heraus, dass das Bild sich selbst nie vollständig abbilden kann
denn erst die Zahlenoperationen – das Addieren, Subtrahieren, das
Dividieren und Multiplizieren – schaffen Verhältnisse und Beziehungen – und damit Analogien
und die Menschen, sie legen ihre analogen Uhren in die Schublade und kaufen sich Digitaluhren, die im Jahr weniger als eine Minute falsch
gehen
Denn mit der Digitalisierung ist eine Überbietung denkbarer
Gedächtnisleistung eingeleitet
Warum?
Weil die Digitalisierung – 0/1/0/1 – zur Überführung der
unterschiedlichen gedächtnisbildenden Aufzeichnungssysteme wie Rede, Bild und Schrift
in einen Universal Code tendiert
Genau das, was die Bewegung hasst
Seufzer des Artikels
Wo gewährt man ihr Freiräume, wo reglementiert man sie?
Das kann die Frau nicht. Nie wird es ihr gelingen
Ein Subjekt, das außer sich gerät, sich vervielfältigt
und in seiner pathetischen Selbstüberschreitung aus der Gleichförmigkeit der Gesellschaft punktuell herausfällt
Die Frauen nehmen jetzt geradezu überhand, besonders in der
Informatik, vor allem in Amerika
Haben sie eine Seele oder haben sie keine?
Und kommt es durch die Wand?
zu ihrer und unserer Erwunderung fällt die schwarze
Spitzenmaske
und unablässig späht ihr Blick mit unruhiger Wachsamkeit
Wird es nicht zu sehr auffallen?
Diese Masken waren mein Verderben
Diese Nachtgespenster, die mich verhöhnen und hinter denen ich herlaufe
Eine wahre Überschwemmung
Auf der anderen Seite sickert das Wasser natürlich auch
Ach was, sie wird das hinkriegen, sie wird das ausbessern,
niemand wird etwas davon sehen, niemand wird, vor allem wenn der Vorhang nicht zugezogen ist, die Stelle bemerken
Bring diesmal die Kamera mit, nimm es auf Band auf.
Wiederhole es sogar.
Aber Feministische Kunst ist keine Stilrichtung
Und wenn wir den ganzen Vorhang neu färbten?
Die Frau ist von Bildern bedeckt
Und die Tapete ist ganz grau geworden
Glaubt sie, die Farbe hat sich nicht geändert?
Hm, muss die Rhetorik des Genres sozusagen Überstunden
machen, um das verlorene zu kompensieren?
Mit großem Fleiß habe ich gelernt, einige einfache Knoten
verlässlich zu visualisieren
Schillernd, immer lichter werdend bis zur Blässe
Aber es ist eine leere Leidenschaft, sie erschöpft sich in
Repräsentation
Die Wirklichkeit wird nicht gefunden, sondern sie wird erfunden
Texturen, die ich im Mond nie gesehen habe
synaptische Bläschen bilden kleine Gruben in der Membran
Stell die Stücke anders zusammen. Fang wieder von vorne an
Denn mit der Vorstellung von Mord verbindet sich oft der
Gedanke an Meer und Matrosen
Bevor die Hüllen fallen, zeigen sich auf den Gesichtern alle
möglichen Spannungen
Ein formloser Haufen auf dem Fußboden, in seinen letzten
erschöpften Zuckungen
es entsteht ein Gedränge, schiefe Perspektiven
Ein Leuchter beginnt, gefährlich zu schwingen
in diese Farben tauchen wir, ob wir wollen oder nicht, unser
Entzücken und unser Entsetzen
Weil sie keine Materie für ein erneutes Projekt der Beherrschung abgeben
halte durch, kauf ein Tuch und etwas Stoff
Denn eine Periode, die, nachträglich an einer einzigen Stelle im Rhythmus gestört wird, macht den schönsten Prosasatz, der sich denken lässt
Jacke wie Hose mein Name ist Rose
Link zum Hörtext auf www.c0da.org
Cache
Feministische Ästhetiken und Archivprozesse
08. 11. 2024 bis 05. 01. 2025
Lentos Kunstmuseum, Leseraum
www.lentos.at/ausstellungen/cache