Im Oktober ist wieder das International Short Film Festival in Linz gelaufen. Es besteht seit 2018. Heuer wurde erstmalig der Mahsa Jina Amini Award verliehen. Ein Interview mit der Festivalleitung Ashkan Nematian und Parisa Ghasemi, die beide selbst Filmemacher:innen sind.
Die Aufwärmfrage: Wie lang oder kurz darf ein Kurzfilm sein? Und was zeichnet ihn aus, welche ästhetischen Kriterien, Erzählformen? Gibt es bestimmte Künstler:innen oder Szenen, die dieses Genre präferieren?
Ashkan Nematian und Parisa Ghasemi: Der Kurzfilm, mit einer typischen Dauer von unter 30 Minuten und einer maximalen Länge von 40 Minuten, ermöglicht es, schnell auf den Punkt zu kommen und ein intensives Erlebnis zu schaffen. Ästhetisch zeichnet er sich oft durch innovative Ansätze und Experimente aus. Viele renommierte Künstler:innen schätzen das Kurzfilmformat. Im Vergleich zu Langspielfilmen, die oft stark von kommerziellen Interessen abhängig sind, bietet der Kurzfilm Künstler:innen Unabhängigkeit, Raum für Experimente und die Möglichkeit, kreative Grenzen auszuloten und sie zu überschreiten. Die Vielfalt und Kreativität, die im Kurzfilm zu finden sind, tragen dazu bei, dass dieses Format weiterhin als relevantes Medium in der Filmwelt betrachtet wird. Zudem ist der Kurzfilm oft Einstieg in die Filmindustrie. Aufstrebende Filmschaffende fangen ihren künstlerischen Weg oft mit Kurzfilmen an.
Zum International Short Film Festival 2023: An fünf Festivaltagen waren 50 internationale Filmemacher:innen zu sehen, im Wettbewerb waren 79 Filme aus 43 Ländern. Es gab Einreicher:innen um die 1000. Zuerst die praktische Frage: Wer sichtet eigentlich die vielen eingereichten Filme? Und wozu tendiert euer Programm hinsichtlich ästhetisch-filmischer Formensprache: Mehr zum visuellen Experiment oder zur erzählerischen Form?
AN und PG: Die Auswahl der eingereichten Filme erfolgt durch eine sorgfältige Sichtung durch die Festivalleitung, also durch uns. In Bezug auf das diesjährige Programm haben wir eine ausgewogene Mischung aus visuellen Experimenten und erzählerischen Formen präsentiert. Das Programm berücksichtigt die Vielfalt der Geschichten, der visuellen Ausdrucksformen und kulturellen Hintergründe. Unser Ziel ist es, dem Publikum eine breite Palette filmischer Erfahrungen zu bieten.
Im Festival zeigen sich diverse Verbindungen zu Filmschaffenden aus dem Iran. Vielleicht könnt ihr etwas zum Iran sagen, auch zum Iran als Filmnation – und auch zur Lage der Filmschaffenden im Iran.
AN und PG: Als Festivalleitung mit iranischen Wurzeln ist unser Festival im Iran sehr bekannt. Trotz Beschränkungen hatte der Iran stets eine lebendige Filmindustrie. Wir erhalten mehr Filme aus dem Iran als aus jedem anderen Land. Das ist wirklich eine Herausforderung, aus rund 400 Filmen nur 4–5 auszuwählen. Gerade die Tatsache, dass die iranische Filmszene mit der höchsten Unterdrückung konfrontiert ist, bietet der Kurzfilm eine Plattform für Filmschaffende, unabhängig vom System zu arbeiten. Wir setzen uns für einen kulturellen Austausch zwischen Österreich und dem Iran sowie anderen Ländern ein. Aufgrund der Einzigartigkeit des iranischen Kinos und seiner Erfolge auf einschlägigen Filmfestivals streben wir an, unsere Verbindungen zu renommierten Filmprofis zu nutzen, um sie als Juroren oder für Masterclasses einzuladen. Dadurch ermöglichen wir österreichischen und internationalen Filmschaffenden einen direkten Kontakt mit diesen herausragenden Künstler:innen.
Die Begriffe Vielfalt und kultureller Dialog ziehen sich in den Statements zum Festival durch. Und das spiegelt sich auch in den zahlreich vertretenen Nationen bis hin zum queer-feministischen Fokus. Es ist vielleicht ein Detail, aber es interessiert mich, warum in den Statement-Texten mehr mit Vielfalt und kulturellen Dialog und weniger mit Politik als Begriff argumentiert wird. Meine Frage zielt ein wenig darauf ab, dass Vielfalt und Dialog tendenziell bunt, versöhnlich und vielleicht sogar etwas harmlos klingen, während dann im Gegensatz dazu mit der Politik die volle Härte der Realität zuschlägt. Ich meine, dass genau dieser Aspekt auch beim Mahsa Jina Amini Preis hervortritt, mit dem ihr euch ja ganz klar politisch positioniert. Er soll, ich zitiere, „den Namen einer jungen Frau ehren und verewigen, deren Ermordung den Beginn der Revolution FRAU LEBEN FREIHEIT markierte“. Vielleicht könnt ihr etwas über die Begriffe Vielfalt, kultureller Dialog sagen, und auch zu einer politischen Haltung.
AN und PG: Mit der Betonung auf Vielfalt und kulturellen Dialog wollen wir eine offene und inklusive Plattform schaffen. Wir glauben, dass Vielfalt und Dialog notwendig sind, um Verständnis und Respekt zu fördern. Gleichzeitig sind wir uns bewusst, dass politische Haltung wichtig ist, insbesondere wenn es um drängende gesellschaftliche Themen wie Gleichberechtigung geht. Der Mahsa Jina Amini Preis steht für unsere klare politische Positionierung und die Erinnerung an bedeutende Ereignisse. Die Vergabe des Mahsa Jina Amini Preises steht in tiefer Verbindung mit der feministischen Revolution im Iran. Der Mahsa Jina Amini Preis ist nicht nur eine Hommage an Mahsa, sondern auch eine klare politische Positionierung des Festivals, die die Bedeutung der Gleichberechtigung und den fortwährenden Kampf für Frauenrechte hervorhebt. Das ISFF 2023 setzt bewusst einen Schwerpunkt auf diese Themen, durch die Einführung eines Queer & Feministischen Tages sowie die Verleihung des Mahsa Jina Amini Preises in Zusammenarbeit mit dem Frauenbüro der Stadt Linz und Rainbow City Linz. Der Fokus auf feministische Themen und die Erinnerung an die feministische Revolution im Iran im Rahmen des Festivals 2023 spiegeln den Wunsch wider, relevante gesellschaftliche Diskussionen voranzutreiben und eine Bühne für Geschichten zu schaffen, die oft marginalisiert werden. Das alles ist Ausdruck des Engagements für Gleichstellung, Inklusion und die Feier der kreativen Beiträge von Frauen und queeren Filmemacher:innen.
Den Mahsa Jina Amini Award hat Giulia Grandinetti für ihren Film Tria erhalten. Ich zitiere die Film-Beschreibung: „In einem dystopischen Rom wird ein Gesetz durchgesetzt, das es Einwandererfamilien nicht erlaubt, mehr als drei Kinder zu haben. Wenn ein viertes Kind zu erwarten ist, muss es geboren werden, aber dann muss eines von ihnen getötet werden, so dass die weiblichen Kinder vorrangig geopfert werden können.“ Ich habe den Film gesehen und meine, dass das ein würdiger Preisträgerfilm ist – zwischen Dystopia, Roma-Leben und existenziellen Themen. Das ISSF verleiht nun mehrere Preise, u. a. für die Sparten Fiction, Documentary, Animation etc. Wenn man die Sieger:innenfilme ansieht – seid ihr zufrieden mit der Auswahl eurer Jury?
AN und PG: Die Auswahl der Jury erfolgt sorgfältig, und wir sind sehr zufrieden mit ihrer Expertise. Tria als Preisträgerfilm ist eine herausragende Wahl, da er wichtige gesellschaftliche Themen anspricht und durch seine Dystopie eine tiefgreifende Diskussion anregt. Tria ist auch filmisch fantastisch realisiert und zeigt die Kreativität der Regisseurin. Die Siegerfilme spiegeln generell über die einzelnen Werke hinaus aktuelle Trends, künstlerische Strömungen und die Vielfalt der Filmproduktion wider.
Euer Verein Closefilm versteht sich als „Raum für gemeinsamen künstlerischen Austausch“. Das International Short Film Festival soll den Aufbau eines internationalen Netzwerks unterstützen. Genannte Schlagworte sind Filmbildung und Filmwirtschaft. Was gibt es schon, auf das ihr aufbauen könnt – und was fehlt aus eurer Sicht? Und auch die Frage: Ist das Festival als Format immer der Weisheit letzter Schluss?
AN und PG: In Bezug auf Filmbildung und Filmwirtschaft gibt es bereits positive Entwicklungen, aber wir merken auch, dass es notwenig ist, weiter zu wachsen, neue Partnerschaften und Formate einzugehen. Festivals sind dynamische Formate und bieten uns Raum für Weiterentwicklung. Neben dem Festival initiierten wir die Talentakademie des Linz ISFFs, wo Filmemacher:innen mit Mentoren ihre nächsten Projekte entwickeln können. Eine Pitch-Session ermöglicht einen Koproduktionsfonds von 2000 €. So sind wir in Filmentwicklungen von neuen, talentierte Filmemacher:innen involviert. Wir bauen auf Partnerschaften, darunter auch Kooperationen mit anderen Festivals auf internationaler Ebene wie z.B. mit dem Short Film Corner vom Festival de Cannes oder Media Desk Kroatien. Die positiven Entwicklungen motivieren uns. Filmfestivals geben dem lokalen Filmschaffen eine Plattform. Sie ermöglichen es, Werke einem breiteren Publikum zugänglich zu machen und Arbeiten auf internationaler Ebene zu präsentieren. Sie schaffen Sichtbarkeit, sind Knotenpunkte für den Austausch von Ideen. Filmemacher:innen, Expert:innen und Enthusiast:innen kommen zusammen, um kulturellen Reichtum zu feiern und innovative Werke zu entdecken.
Die Synergie zwischen lokalen und internationalen Filmschaffenden positioniert unsere Stadt in der globalen Filmgemeinschaft. Insgesamt trägt die Existenz eines internationalen Kurzfilmfestivals zur Stärkung der lokalen Filmindustrie bei. Ein Kurzfilmfestival wie das Linz ISFF ist insgesamt wichtig für unsere Stadt. Die Präsentation internationaler Kurzfilme fördert die Filmkultur in Linz, bietet vielfältige Erzählformen, kulturelle Hintergründe und ästhetische Ansätze. Mit internationalen Kurzfilmen die Grenzen Europas zu überschreiten, fördert zudem Verständnis und die Solidarität mit „Anderen“. Dies alles erweitert den Horizont.
Ich komme – last but not least – zu euch beiden als Filmemacher:innen: Ashkan, du hast den Spielfilm Looteyo gemacht, bei dem du Parisa, die Funktion der Line Producerin innehattest. Ich frage euch damit nach eurem jeweils aktuellen künstlerischen Filmschaffen. Parisa, du warst mit Kurzfilmen bei größeren Filmfestivals vertreten, was sind deine aktuellen Vorhaben? Ashkan, wie sieht es aus – nächster Film: lang oder kurz? Ganz allgemein: Woran arbeitet ihr?
PG: Zuallererst betrachten wir uns als Filmemacher*innen und sind erst danach Filmfestival-Organisatoren. Als Filmemacher:innen arbeiten wir ständig an neuen Projekten. Mein neuester Kurzfilm „Mein Perfekter Geburtstag“ befindet sich derzeit in Verhandlungen mit internationalen Vertriebspartnern. Ich arbeite gerade an der Konzeption und am Drehbuch meines nächsten Films, bin außerdem an ein paar weiteren Projekten als Produzentin beteiligt.
AN: Ich habe im Jahr 2022 meinen ersten Langspielfilm „Looteyo“ fertiggestellt, der Film wird weltweit von Sixpackfilm Wien vertrieben. Erwähnenswert ist, dass der Film von Hayedeh Safiyari, einer renommierten Cutterin, geschnitten wurde. Sie hat für großartige Filme, unter anderem für Oscargewinnerfilme den Schnitt gemacht. Ich arbeite derzeit an meinem nächsten Film, der im Jahr 2024 in Österreich gedreht wird. Ich bin als Produzent bei weiteren Filmprojekten dabei, die sich in verschiedenen Produktionsphasen befinden. Als Festivalleiter*innen und Mitglieder der Vereinsorganisation jonglieren wir mit den Herausforderungen, nicht nur als Veranstaltungsorganisatoren, sondern auch als Künstler*innen tätig zu sein. Die Aufgabe, Zeit von unserem eigenen künstlerischen Schaffen abzuzweigen, um ein Event zu organisieren, ist anspruchsvoll, aber die lohnende Erfahrung und die entstehende Plattform machen es zu einer bereichernden Reise.
Linz ISFF 2023 Das Linz International Short Film Festival fand von 11.–15. Oktober in der Kunstuniversität und im City Kino statt. Außerdem gab es Panels, Talks, Branchenveranstaltungen und eine Nightline an den einschlägigen Orten der Szene. Die Linz ISFF Festivalleitung sind Ashkan Nematian und Parisa Ghasemi.
www.linzisfilmfestival.com
www.parisaghasemi.at
ashkannematian.com
Siegerfilm Tria by Giulia Grandinetti
lightsonfilm.com/tria.html
Interview mit Giulia Grandinetti
testkammer.com/2023/07/03/neun-fragen-an-giulia-grandinetti
Die Interviewfragen hat die Redaktion der Referentin gestellt.