Die Referentin bringt seit mehreren Heften eine Serie über frühe soziale Bewegungen und emanzipatorische Entwicklungen. Über die revolutionäre Gewerkschaftsbewegung des Anarchosyndikalismus, von seiner Entstehung vor etwa 100 Jahren bis zu seiner Renaissance in den letzten Jahren schreibt Hans Huber.
Vor einhundert Jahren existierte international eine revolutionäre Gewerkschaftsbewegung, die heute kaum mehr bekannt ist. Die Rede ist vom Anarchosyndikalismus. Seine Hochblüte erlebte dieser in der Zwischenkriegszeit, doch Faschismus und Zweiter Weltkrieg ließen von der einstigen Massenbewegung nur mehr kümmerliche Reste über. Was zeichnete diese Gewerkschaften aus und weshalb erlebt die Idee des Anarchosyndikalismus in den letzten Jahren eine Renaissance?
Von der Geburt des Syndikalismus …
Wenn heute von der Gewerkschaft die Rede ist, so sind damit im deutschsprachigen Raum die großen Einheitsgewerkschaften gemeint. Der ÖGB vereint verschiedene politische Fraktionen und verhandelt als eine Gewerkschaft sozialpartnerschaftlich mit den Verbänden der Arbeitgeber. Solche Gewerkschaften bilden in Europa jedoch die Ausnahme – in anderen Ländern wie Frankreich und Spanien existieren Richtungsgewerkschaften mit unterschiedlichen weltanschaulichen oder parteipolitischen Ausrichtungen.
In Frankreich entstand Ende des 19. Jahrhunderts auch der Syndikalismus. Dieser verwarf die Grundidee der damaligen zersplitterten sozialistischen Parteien, mittels Wahlen die Lebenssituation der Arbeiter*innen zu verbessern und zum Sozialismus zu gelangen. Stattdessen sollte der Klassenkampf unmittelbar im ökonomischen Bereich durch die Gewerkschaften geführt werden – mittels „direkter Aktion“, also z. B. Streik, Boykott oder Sabotage. Neben dem „Kampf ums tägliche Brot“ mit dem Ziel von sofortigen Verbesserungen – also z. B. Verkürzung der Arbeitszeit oder Lohnerhöhungen – verfolgte der Syndikalismus darüber hinaus das Ziel einer sozialen Revolution.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts formte sich schließlich als eigene Strömung der Anarchosyndikalismus aus. Seine Theorien basieren auf den Vorstellungen des anarchistischen Sozialismus, während sich die Organisationsform an den revolutionären Syndikalismus anlehnt. Im Unterschied zu Parteisozialist*innen jeglicher Couleur verwerfen Anarchosyndikalist*innen die Idee, den Sozialismus „staatlich von oben herab“ einzuführen. Denn Verstaatlichung der Wirtschaft kann „nur zur schlimmsten Form der Ausbeutung, zum Staatskapitalismus, nie aber zum Sozialismus führen“ (Prinzipienerklärung des Syndikalismus, 1919). Statt zentralistischer Lenkung von Wirtschaft und Gesellschaft durch den sozialistischen (Einparteien-)Staat erstreben Anarchosyndikalist*innen einen libertären Sozialismus, der föderalistisch von unten nach oben organisiert sein soll. Die Gewerkschaft bildet dabei das Kampfinstrument zur Verbesserung der aktuellen Lebenssituation sowie zur Übernahme der Produktionsmittel in der sozialen Revolution und gleichzeitig auch die Basis der Organisation der neuen sozialistischen Wirtschaft.
… über die anarchosyndikalistischen Gewerkschaftsinternationale …
In den 1920er-Jahren schlossen sich Gewerkschaften mehrerer Kontinente von Argentinien über die USA und Europa bis Japan in einer diesen Zielsetzungen verpflichteten Gewerkschaftsinternationalen zusammen. Die „Internationale Arbeiter Assoziation“ (IAA) vereinte in ihrer Blütezeit vier Millionen Mitglieder.
Auch in Deutschland erlebte der Anarchosyndikalismus nach dem ersten Weltkrieg einen Aufschwung: die aus der „Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften“ hervorgegangene anarchosyndikalistische „Freie Arbeiter Union Deutschlands (FAUD)“ zählte Anfang der 1920er-Jahre über 125.000 Mitglieder mit Hochburgen in den Bergbauregionen des Ruhrgebiets und einzelnen Industriestädten. In ihrer 1919 angenommen Prinzipienerklärung heißt es: „Die Syndikalisten (…) sind prinzipielle Gegner jeder Monopolwirtschaft. Sie erstreben die Vergesellschaftung (…) aller sozialen Reichtümer.“.
Die FAUD beteiligte sich an zahlreichen Streiks und stellte im Ruhraufstand 1920 (Märzrevolution) einen Teil der „Roten Ruhrarmee“. Von 1923 bis 1932 schrumpfte sie schließlich auf einige tausend Mitglieder – die Reste der unter dem Nationalsozialismus illegal weiteragierenden Organisation wurden 1936/37 von der Gestapo zerschlagen und in mehreren Prozessen vor dem Volksgerichtshof abgeurteilt.
In Österreich standen Anarchismus und Anarchosyndikalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Schatten der starken Sozialdemokratie. Zwar gab es kleine anarchosyndikalistische Gewerkschaften und Propagandagruppierungen, über eine Gesamtmitgliederzahl von 2.000 kamen diese jedoch nicht hinaus.
… zur sozialen Revolution in Spanien 1936
Das Land mit der stärksten anarchosyndikalistischen Massenbewegung stellte Spanien in der Mitte der 1930er-Jahre dar. Die Confederation National de Trabajo (CNT) verfügte zu diesem Zeitpunkt über eine Million Mitglieder. Als 1936 rechte Generäle gegen die Linksregierung putschten, folgte bereits in den ersten Tagen des Spanischen Bürgerkriegs eine soziale Revolution in weiten Teilen Kataloniens und Andalusiens: die CNT übernahm die Kontrolle über zahlreiche Betriebe, richtete Agrarkollektive ein und versuchte ihre Vorstellung eines libertären Sozialismus umzusetzen. Die gesellschaftlichen Umwälzungen beschränkten sich dabei nicht auf den wirtschaftlichen Bereich, sondern erfassten auch die Schulen, das Gesundheitswesen oder die „Geschlechterfrage“. So organisierten sich etwa 20.000 Frauen bei den anarchistisch-feministischen „Mujeres Libres“.
Gemäß den föderalistischen Vorstellungen im Anarchismus wiesen vor allem die Agrarkollektive unterschiedlichste kollektivistische und kommunistische Formen auf: manche Dörfer und Kleinstädte schafften das Geld ab, andere entlohnten nach Familie, wieder andere individuell. Und in vielen Dörfern existierten neben dem Kollektiv individuelle Bewirtschaftungsformen für jene weiter, die sich dem Kollektiv nicht anschließen wollten. Ein komplexes System lokaler und überregionaler Vernetzung sorgte für die Rohstoff- und Materialbeschaffung und die Verteilung der produzierten Produkte – ein libertärer Sozialismus von unten nach oben konträr zur zentralistischen Staatsverwaltung in der Sowjetunion.
George Orwell, der in Spanien in der marxistisch-antistalinistischen P.O.U.M. bewaffnet gegen den Faschismus gekämpft hatte, beschrieb diesen libertären Sozialismus in „Spanische Erfahrungen“ so: „Die normale Klasseneinteilung der Gesellschaft war in einem Umfang verschwunden, wie man es sich in der geldgeschwängerten Luft Englands fast nicht vorstellen kann. Niemand lebte dort (Aragon, Anm.) außer den Bauern und uns selbst, und niemand hatte einen Herrn über sich. (…) Ich weiß sehr genau, wie es heute zum guten Ton gehört zu verleugnen, daß der Sozialismus etwas mit Gleichheit zu tun hat. In jedem Land der Welt ist ein ungeheurer Schwärm Parteibonzen und schlauer, kleiner Professoren beschäftigt zu „beweisen“, daß Sozialismus nichts anderes bedeutet als planwirtschaftlicher Staatskapitalismus (…). Aber zum Glück gibt es daneben auch eine Version des Sozialismus, die sich hiervon gewaltig unterscheidet.“
Doch innerhalb der republikanischen Gebiete erwuchs dieser Revolution ein erstarkender Gegner:
Die an Stalin orientierte Kommunistische Partei PCE entwickelte sich „zur Verfechterin des Privateigentums und der Interessen des Mittelstandes.“ (Walther L. Bernecker) Sie nutzte ihren stark wachsenden Einfluss in der Volksfrontregierung, unterdrückte ab Mai 1937 P.O.U.M und CNT und zerschlug zahlreiche Landkollektive. Auf die Niederlage der Revolution folgte 1939 die Niederlage der Linken im spanischen Bürgerkrieg.
Vom Niedergang bis zum Neuaufleben des Anarchosyndikalismus heute
War der Höhepunkt der meisten (anarcho)syndikalistischen Gewerkschaften in den 1920er-Jahren erreicht, so befanden sich die übriggebliebenen Reste nach dem Zweiten Weltkrieg im Niedergang. Der Historiker Marcel van der Linden beschreibt drei Wege ihrer weiteren Entwicklung:
a) das Festhalten an den ihren Prinzipien und darauffolgende Marginalisierung
b) Änderung ihres Kurses und Anpassung an neue Bedingungen – und somit die Aufgabe syndikalistischer Prinzipien
c) Auflösung oder Aufgehen in einer nicht-syndikalistischen Gewerkschaft
Von einzelnen lokalen Ausnahmen wie der SAC in Schweden oder dem Wiederaufleben der CNT in Spanien Anfang der 1970er-Jahre abgesehen, existierte der (Anarcho)Syndikalismus hauptsächlich noch als Ideengemeinschaft, aber nicht mehr als wahrnehmbare gewerkschaftliche Kraft.
Seit den 1990er-Jahren ist eine Trendwende und ein internationales Wiederaufleben anarchosyndikalistischer Ideen bemerkbar. Neu gegründete oder erstarkte Gewerkschaften mit (anarcho)syndikalistischer Prägung finden sich vor allem in jenen prekarisierten Bereichen, die von herkömmlichen Gewerkschaften vernachlässigt werden. So konnte etwa die 1977 wiedergegründete Freie Arbeiter*innen Union (FAU) in Deutschland in den vergangenen Jahren verstärkt an gewerkschaftlichem Profil gewinnen und damit auch ihre Mitgliederzahl deutlich steigern – heute sind wieder über 1.300 Menschen in Deutschland Mitglied in einer anarchosyndikalistischen Gewerkschaft. Neben zahlreichen kleineren Auseinandersetzungen z. B. um Lohnzahlungen machte sie mit ihrem Einsatz für rumänische Bauarbeiter in Berlin („Mall of Shame“), mit der Unterstützung eines wilden Streiks von 150 Erntehelfer*innen bei Bonn 2020 oder mit der Organisierung von Arbeitskämpfen von Fahrradkurier*innen von sich reden. Die spanische CNT-Abspaltung CGT verfügt heute über 80.000 Mitglieder und ist z. B. auch in feministischen Kämpfen (Frauenstreik) aktiv.
In Österreich existieren derzeit mit dem Wiener Arbeiter*innen Syndikat (WAS) und den Wobblies (IWW) zwei kleine Gewerkschaftsgruppen, die sich auf anarchosyndikalistische bzw. syndikalistische Traditionslinien beziehen. In den vergangenen Jahren konnte dabei das WAS in (Lohn)Auseinandersetzungen mehrere Erfolge erzielen. Ihre modernen Kämpfe „ums tägliche Brot“ reihen sich ein in das Wiederaufleben einer sozialrevolutionären Gewerkschaftsbewegung, die nach dem Zweiten Weltkrieg fast in Vergessenheit geriet.
Die Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch bzw. der Gruppe Anarchismusforschung entstanden, siehe auch: anarchismusforschung.org