Im Rahmen des Gedenkjahres 2018 präsentiert das Lentos Kunstmuseum im Untergeschoss die Schau „Anschluss“ von Tatiana Lecomte. Die österreichische Künstlerin mit französischem Pass dekonstruiert durch mehrere Kunstgriffe unseren Blick auf die Geschichte.
Das Untergeschoss des Lentos Kunstmuseums hat eine spezielle Architektur, durch eine in der Mitte des Raumes eingezogene Wand, die wie ein Paravent den Raum trennt; so gelangt man links und rechts jener Wand von der einen Seite des Raumes zur anderen. Eine der beiden Arbeiten von Tatiana Lecomte, die dort zu sehen sind, funktioniert analog zu dieser räumlichen Trennung. Für die Fotoarbeit, die neben dem Kurzfilm im Untergeschoss ausgestellt ist, recherchierte die Künstlerin in zahlreichen, lokalen Archiven Bildmaterial zur Zeit des Anschlusses. Linz ist bekannt für die historische Aufarbeitung seiner nationalsozialistischen Vergangenheit, die seit den 1990er Jahren fortlaufend angestrengt wird, von universitärer Seite, von Archiven, von Museen. Auch wenn die wissenschaftliche Aufarbeitung noch nicht abgeschlossen ist, dürfte das bisher ermittelte und aufgearbeitete Material, die Dokumente, die Fotografien, gut fundiert sein. 1938 nahm Linz nicht nur als Wirtschaftsstandort, durch die im gleichen Jahr im Linzer Süden gegründeten „Hermann-Göring-Werke“ eine strategisch wichtige Rolle ein, sondern die Stadt war von der nationalsozialistischen Führung auch als „Kulturhauptstadt des Führers“ geplant und sollte damit von Anfang an auch eine mit Wien konkurrierende Position einnehmen. In der Bevölkerung, so haben es die zeitgenössischen Fotografen damals dokumentiert, war die Begeisterung für den Anschluss jedenfalls groß. Man begrüßte die Vision der künftig herausragenden Rolle der Stadt in Oberdonau im Deutschen Reich. Heute sind etliche historische Fotografien zum Anschluss, zumindest vielen der Linzerinnen und Linzer, gut bekannt: Adolf Hitler besucht im offenen Automobil seine Heimatstadt, Menschen stehen Spalier, der Aufmarsch, Jubel, Hakenkreuze in den Fenstern.
Unerwartete Projektionsflächen
Bei ihrer Arbeit in den Archiven entwickelte Tatiana Lecomte, wie sie im Interview erklärt, die Idee der Aufspaltung von Bild und Zuschreibung. Das mit der räumlichen Aufteilung im Untergeschoss des Lentos umgesetzte Auseinanderdividieren von Foto und Bildlegende erzeugt nun andere Gewichtungen, fordert bei den BetrachterInnen neue Assoziationen heraus. Denn durch die Trennung des Bildes von seinem ursprünglichen Begleittext, wie Beschriftungen und Informationen über Entstehungsjahr und FotografIn, die in einem Archiv systematisiert und betitelt sind, wirkt diese Trennung von Bild und Information nun in der Kunstausstellung wie nonverbale Kommunikation, zwischen den Zeilen, zwischen den Räumen, zwischen freiem Ermessen von Bedeutung und Einschätzung.
Neben dem recherchierten Fotomaterial hat Tatiana Lecomte auch selbst an unterschiedlichsten Schauplätzen fotografiert und kombiniert ihre Fotoserien mit dem historischen Material als eine Gesamtheit, die in neunundzwanzig Bildtafeln gehängt ist. In der Ausstellung sind dabei aber keine Originalbilder zu sehen, sondern Kopien davon. Diese künstlerische Entscheidung wirkt wie ein Layer und erzeugt Distanz vor dem eigenen wissenden Blick.
Von der Not des Geräuschemachers
Auch der Kurzfilm „Ein mörderischer Lärm“, ein Zeitzeugengespräch von Tatiana Lecomte mit Jean-Jacques Boijentin, wird durch einen dekonstruktivistischen Eingriff ästhetisch eindringlich. Er ist damit kein Zeitdokument im wissenschaftlichen Sinn mehr, sondern wird zum Kunstprodukt. Lecomte, die sich selbst als österreichische Künstlerin bezeichnet, hat über ein anderes Projekt Kontakt zum Zeitzeugen Boijentin erhalten. Da Lecomte selbst nahe dem ursprünglichen Wohnort von Herrn Boijentin aufwuchs, war dies eine Zufälligkeit, die einen Einstieg in das schwierige Unterfangen erleichterte. Gemeinsam mit einem Kameramann und einem Geräuschemacher versuchten die Beteiligten des Filmdrehs, die Geschehnisse im Arbeitslager Gusen II zu rekonstruieren. Den Geräuschemacher beauftragte die Künstlerin, um mit dem Klang, der sich ähnlich unmittelbar auswirkt wie der Geruchssinn, das Erlebte von damals akustisch zu interpretieren. Jean-Jacques Boijentin musste, nachdem er von der Gestapo in Mussidan, einem kleinen Dorf im Südwesten Frankreichs am 16. Jänner 1944 verhaftet und zunächst nach Buchenwald, dann Mauthausen und schließlich nach Gusen verschleppt wurde, Zwangsarbeit beim Bau des unterirdischen Flugzeugwerks „B8 Bergkristall“ leisten. Die Elektrizität hat mir das Leben gerettet, sagt Boijentin, der Elektriker war, im Interview. Boijentin ist dabei ein professioneller Erzähler, der jahrzehntelang auch als Zeitzeuge in Schulen engagiert war, seine Geschichte an die junge Generation zu vermitteln. Tatiana Lecomte erklärt, sie hatte bei der Zusammenarbeit den Eindruck, Boijentin erzählte nicht seine Geschichte, sondern er erzählt seine Erzählung nach, was ihm zugleich eine Distanz erlaubte, über die schrecklichen Ereignisse sprechen zu können, ohne zu weinen. Es war Sommer, die Dreharbeiten fanden in Korsika statt, wo Boijentin, der kurz nach Erscheinen des Films verstarb, noch seinen Lebensabend bei seiner Tochter verbrachte. Ein Zeitzeugengespräch im Sonnenschein. Und ein Geräuschemacher, der zu leiden beginnt. Wie klingen Steine auf Körpern? Wie klingt ein tiefer Fall? Aus den längst stillgelegten Stollen dröhnt mit dem Film „Ein mörderischer Lärm“ in die Gegenwart hinein.
Ausstellungsdauer: bis 6. Jänner 2019
Die Publikation zur Ausstellung wird am 6. Jänner 2019 bei einer Matinee im Lentos präsentiert.