Wucht, Widersprüche, Klischees – Anton Bruckner mit Mitteln der Literatur bearbeitet: In der Textsammlung Brucknermaterial schlägt der Autor Florian Neuner Schneisen durch die Bruckner-Literatur. Er versucht, mit literarischen Montagetechniken diejenige Reibung zu inszenieren, die entsteht, wenn Sprache auf diese Musik trifft. Das Buch ist im Herbst dieses Brucknerjahres 2024 erschienen – hier einige Textauszüge.
Florian Neuner begegnete Bruckner bereits als Kind, ist in seinem Postskriptum zu lesen. Neuners Beschäftigung mit Bruckner ist danach niemals abgerissen. Er begründet sein Interesse auch damit, dass „es keinen anderen Komponisten gibt, dessen Interpreten so grundstürzend-unterschiedliche, teils auch widersprüchliche Wege gehen wie die Bruckner-Dirigenten.“ Und weiter: „So vielgestaltig und kontrovers sich das Panorama der Bruckner-Interpretationen darstellt, so reich an Widersprüchen ist auch die Bruckner-Literatur. Bekanntlich zerfiel schon die zeitgenössische Kritik in zwei unversöhnliche Lager“ – und das meint etwas zwischen bedeutendstem Symphoniker seit Beethoven und anarchistischem Zerstörer der Tradition. An späterer Stelle heißt es: „Sowohl im Lager der Bruckner-Jünger wie auch in dem seiner Gegner trieb diese Kontroverse extreme sprachliche Blüten. Es dürfte keine andere Musik geben, über die in so schrillen Tönen, schrägen Metaphern und grotesken Bildern gehandelt und dabei so dick aufgetragen wird: Die Rede ist von Elementargewalt, Urwüchsigkeit, kosmischer Offenbarung, musikalischen Kampfmitteln und zermalmender Wucht – darunter macht es niemand.“
Die Bruckner-Anekdotik erledigt Neuner im Buch auf einer Seite. Jedoch, dass „die Persönlichkeit des Komponisten in den Textcollagen aber durchaus eine Rolle spielt (vgl. ‚zur person‘)“, liege an der Verknüpfung der Musikanalyse mit der Person Bruckners. Hier wird laut Neuner „eine enge Verbindung von Leben und Werk behauptet, psychiatrische Ferndiagnosen inclusive“.
Passend zum Finale dieses Brucknerjahres 2024 lesen Sie in dieser Referentin nun eine von der Redaktion ausgewählte Montage von Textauszügen aus der Textsammlung Brucknermaterial.
das ist blödsinn …
das ist blödsinn, antimusikalischer blödsinn
ein berg von blödsinn ist das
chaos
apokalypse in vier kapiteln
ein auflösungsvorgang
lawinenartige ausbrüche sind das
eine alles mit sich fortreißende, alles überflutende bewegung
das ist die endlösung
das ist elfenspuk
empörung
ein bestürzendes ereignis ist das, ein norm- & formsprengendes
zischende flammenbäche sind das
eine episode an episode anstückelnde flickarbeit
gebetsergüsse sind das
kahle gebilde
ein labyrinthisch-verschlungener gedankengang
gedröhn ist das
ein geisterwerk der erscheinungen
das ist formloses geschwätz
getriebenheit, die kein ziel erreicht
der habitus eines panischen getriebenseins
das ist eine gemischte reihenfolge von halluzinationen
hingabe & wut ist das
nein, nur wut
das ist das inferno
ein musikalischer klecks ist das
eine klimax des entsetzens
ein schalkhaftes koboldtreiben
schwankende kraftgebärden sind das
inszenierte krisen
eine gewaltige leere ist das
ein leeres werk aus großem können
eine breiartige masse ist das
eine unreife masse
musik in einem leerraum
ein musikdrama ohne text
ein nachklang der erschütterung des denkens
das ist ein nachwühlen
nebelmeere sind das
das ist eine riesenhafte opferhandlung
das ist ein orkan
das ist ein klaffende pause das ist ein phänomen
ein produkt phantastischer willkür, überschwänglichkeit & ichsucht
das ist eine rakete, die in den lüften zerplatzt
ein unwirklicher, fahler raum
unersättliche rhetorik ist das
raunen, rauschen
das ist ein schwarzer riese
stapfende riesengänge
eine fremde riesengestalt
das sind riesenschlachten
eine symphonische riesenschlange
das ist ein dämonisches satyrspiel
ein schattentanz unsauberer geister
das ist ein scheitern des kraftaufgebots
grausame scherze sind das
die letzte schlacht
das ist der schreckensgedanke der vernichtung
wilde schreie sind das
eine verzückte schwelgerei in unklaren gefühlen ist das
eine serie von werkstücken
das ist ein sonderfall
das ist sprengstoff
ein sprengsatz ist das
das ist doch eine musikalische stegreifkomödie
stückwerk ist das
ein sturmangriff
ein symbol dämonischer zerstörungsmächte
ein taumel
ein anarchisches toben
das ist doch nur ein torso
ein wüster trümmerhaufen
ein so noch nicht vernommener tumult
das ist tyrannenmord
tote & verstümmelte überreste einer dem untergang geweihten welt sind das
eine unordnung ist das, unsinn
urschmerzenslaute sind das
das ist eine vergewaltigung
das ist heller wahnsinn
das ist das weltgericht
ein weltgebäude
ein kosmischer weltenbau
wetterleuchten
das ist eine christliche wolfsschlucht
wut ist das
unerlöstes abbrechen
(…)
zur person I
die rede ist von: zyklothym verlaufenden schwermütigen krisen
von identifikation mit dem aggressor & einer nekrophilen vorliebe für alle manifestationen des todes (unterhalb der porösen fassade seiner persönlichkeit)
abgrundtiefer ängstlichkeit & überquellenden größenwahnvorstellungen
von einer nervösen disposition, einer melancholisch-anankanthischen persönlichkeit
von einer geradezu peinlichen bescheidenheit & einer vorliebe für türme, vor allem für turmspitzen
unergründlicher heiterkeit & schrecklicher nervosität
gänzlicher entnervung & überreiztheit
gänzlicher erschöpfung der nervenkraft & faustisch hervorbrechenden exaltationen der seele
einer beängstigenden ruhelosigkeit, ungeheurer innerer unruhe
von einem tief gestörten narzißtischen selbstwertgefühl, einer extremvariante des anal-retentiven charakters
einem brennenden begehren nach zuneigung & mimosenhafter verletzbarkeit
quälenden fixen ideen, unrast & angst
überreiztheit, exaltation, religiösem wahn
merkwürdigen nervenstörungen & einer tendenz zur subordination von enormer sensibilität & einem extremen affektleben
einem großen interesse an leichenzügen & leichnamen, exhumierungen & totenschädeln
zwanghafter & übermächtiger düsterheit & einem hang zur depression
von schwermut & friedlosigkeit des herzens
neurotischen zügen & einem tief reduzierten selbstwertgefühl
einer neigung zu mißtrauen & paranoiden ideen
monomanischer verzagtheit & sucht nach anerkennung
von ständiger innerer unruhe & bangigkeit, von fehlender selbstkontrolle
einer zwangsneurotischen mortifikation der gefühle, zwangsneurotischem abwehrmanagement
lebenslanger abtötung der begierde, schweren nekrophilen strebungen
dämonie & verzicht auf rationalität
von der abnormität seiner nerven & einer extremstellung innerhalb jedweder dimension
von bierdurst & grenzenloser sehnsucht nach einsamkeit
hochgradiger nervosität & den spuren geheimnisvoll-schmerzlicher versenkung
energieverlust & zersplitterungsgefahr
in immer neuer angst
(bis an die grenze des wahnsinns)
(…)
III.
hinter dieses werk gibt es kein zurück mehr. das ist ein prägnantes zeugnis für bruckners zug ins unbegrenzt-maßlose. erinnerung & vorgriff können in jede situation einbrechen. schroffe gegensätze, schnitte & gewaltsamkeiten prägen die signatur der gesamten komposition. das ist ein architektonischer einfall von solcher großartigkeit, wie ihn vor bruckner kein tonbaumeister fassen oder verwirklichen konnte. die weit ausgeschwungene melodie könnte ins unbegrenzte fortlaufen. die statik wird mit dynamik konfrontiert. wie viele feinde drängen außen an & innen! jetzt enthüllen die angesammelten kräfte ihre dramatische potenz. der eindruck von überwältigung & ergebung, rätselhafter frage & nicht weniger labyrinthischer antwort, physischem terror & seelischem widerstand bleibt bestehen. zitternd verebbt dann dieser abschnitt. bald verdichten sich die energien. ein erneuter kontrast bringt unruhe & formale verwirrung. meist übergangslose abschnitte, freistehende varianten einzelner themenabschnitte, die nicht unmittelbar auseinander hervorgehen & schon gar keinen lückenlosen zusammenhang bilden. zwei wellenbewegungen münden ins offene. der ton der gewißheit währt nicht lange. verläuft sich im sand einiger undefinierbarer zitate. diskontinuität & kontrastierung aufeinanderfolgender ereignisse bedrohen die wahrnehmung der form. angeblich verdankt diese musik einem weihnachtslied ihre entstehung. die schlichte innerlichkeit spricht unmittelbar zum herzen. herrlich strömt es mir vom himmlischen gestade. vor der vierten, mächtigsten entladung steht wieder ein scheues gebet. dann ein gänzliches versinken im geheimnis. die musik hat den charakter wilder ausgelassenheit & wirkt fast ein wenig martialisch-bedrohlich. das ist ein erdbebenhaftes rütteln wilder naturgewalten. das böse schreitet frech in lichter pracht. das ist die grimmige gebärde eines mythischen erdriesen. der stampfend-donnernden rhythmik wird eine heiter-tänzerische beschwingtheit entgegengesetzt, die man fast graziös nennen könnte. der tanzboden aber scheint fern. zunächst eine einleitung, die von quirliger hektik geprägt ist, als sei es bruckner unmöglich, sogleich zur sache zu kommen. aus gewitterschwüle springt, schnell anschwellend, eine sturmfigur auf. die welt ist ein schlachtfeld. kampf heißt die parole. die musik versucht zusammenzuzwingen, was üblicherweise im nacheinander vor sich geht. frömmigkeit & fröhlichkeit oder weltfreude & gottverbundenheit in einem tonge danken. versatzstückartig werden vorgefertigte elemente anderwärts verwendet. ernste, stille zeremonien wechseln sich ab mit lauten dank- & freudenausbrüchen, mit glockengeläute, böllerschüssen & blechmusik. unter der wucht des zusammenpralls sinken die energien noch einmal zusammen. erneut brechen sie aus, wellen ab, wallen auf.
(…)
die musikalische architektur
aus bruckners antrittsrede an der universität, wien 1875
die musik hat innerhalb eines zeitraumes von zwei jahrhunderten so kolossale fortschritte gemacht, sich in ihrem inneren organsimus so erweitert & vervollständigt, daß wir heute – werfen wir einen blick auf dieses reiche material – vor einem bereits vollendeten kunstbau stehen, an welchem wir eine gewisse gesetzmäßigkeit in den gliederungen desselben sowie eine gleiche von diesen gliedern dem ganzen kunstbau gegenüber erkennen werden. wir sehen, wie das eine aus dem anderen hervorwächst, das eine ohne das andere nicht bestehen kann, & jedoch jedes für sich wieder ein ganzes bildet.
die musikalische wissenschaft hat ihren ganzen kunstbau bis in die atome seziert, die elemente nach gewissen gesetzen zusammengruppiert & somit eine lehre geschaffen, welche auch mit anderen worten die musikalische architektur genannt werden kann.
in dieser lehre bilden wieder die vornehmen kapitel der harmonielehre & des kontrapunktes die fundamente & die seele derselben.
wir werfen einen blick auf dieses reiche material.
wir stehen vor einem vollendeten kunstbau.
wir erkennen eine gesetzmäßigkeit in den gliederungen.
wir erkennen eine gesetzmäßigkeit dieser glieder dem ganzen kunstbau gegenüber.
wir sehen, wie das eine aus dem anderen hervorwächst.
wir sehen, wie das eine ohne das andere nicht bestehen kann.
wir sehen, wie jedes für sich wieder ein ganzes bildet.
wir sezieren den ganzen kunstbau bis in die atome.
wir gruppieren die elemente nach gewissen gesetzen.
das eine wächst aus dem anderen hervor.
das eine kann ohne das andere nicht bestehen.
jedes element bildet für sich ein ganzes.
wir werfen einen blick auf das ganze & sehen:
das eine wächst aus dem anderen hervor.
das eine kann ohne das andere nicht bestehen.
jedes element bildet für sich ein ganzes.
wir sezieren das ganze bis in die atome.
wir gruppieren die elemente nach gewissen gesetzen & sehen:
das eine wächst aus dem anderen hervor.
das eine kann ohne das andere nicht bestehen.
jedes element bildet für sich ein ganzes.
usf.
(…)
stellen von unbeschreiblicher erotik
in brennender leidenschaft:
der erste gemeinsame orgasmus raubt uns den verstand.
in warmer hingabe:
hochwürden nimmt meinen schwanz in den mund.
& mit schwelgerischer inbrunst:
wie ausgehungerte wölfe fallen wir in der sakristei über einander her.
serien von phantasien:
ein mönch schlägt mir mit einer weidenrute abwechselnd auf den hintern & auf die scham.
nach höchstem aufschrei heißesten verlangens:
er packt mich & beginnt wild zu stoßen.
das ist eine gefühlsvibration:
ich zucke, zittere & bebe, stöhne.
eine bizarr ausschweifende & jäh abspringende phantasie ist das:
ein seminarist muß sich an das harmonium setzen, um die schmerzensschreie der gezüchtigten zu übertönen.
von takt zu takt wächst die kraft:
ich beiße auf die lippen, um nicht zu schreien.
das ist ein sich-reiben:
ich genieße die heftige reibung sehr, meine bewegungen werden schneller.
immer mehr anschwellend:
ich bemerke, daß sich sein schwanz dabei immer mehr aufrichtet.
das führt zu vollem ergusse:
er entlädt sich mit einem gewaltigen urlaut in mich.
& mitten im glühenden ergusse:
entlädt sich ein anderer mönch unter zuckungen.
mit wohllüstigem schaudern:
der herr pfarrer prügelt die geilheit aus mir heraus.
mit vollen segeln einherstürmend:
mein körper biegt sich unter den wilden stößen des priesters.
vom sinnlichen zum übersinnlichen fortschreitend:
tränen der lust & der ekstase rinnen über meine wangen.
immer größere steigerungen & erhitzungen:
dabei immer elektrisierter, beginnt er mich abwechselnd zu küssen & an meinen brustwarzen zu knabbern.
das ist der ausdruck einer elektrischen entladung:
die schleusen zu meiner ganz privaten hölle öffnen sich.
ein steigerungsbedürfnis:
hochwürden läßt in seinen heftigen stößen nicht nach.
das sind hingebungsklänge:
zärtliche hände bereiten die nächste explosion vor.
mit feurigem schwung:
sie hat ein riesiges lustfeuer in sich.
voll männlicher kraft:
seine eichel ist so prall, wie ich es noch nie gesehen habe.
triebkräfte außerhalb des willens sind das:
der stoß kommt wie eine explosion … bis ein lautes stöhnen den orgasmus des mönchs ankündigt.
heftige, nachzitternde stöße:
beide männer entladen sich gleichzeitig.
dann bricht die bewegung abrupt ab:
die hervorragende bläserin bringt mich beinahe zum vorzeitigen erguß.
abbruch im höhepunkt:
plötzlich erbebe ich & beginne konvulsivisch zu zucken.
kolossale anläufe, keine befriedigung:
solange wie möglich zögert er den höhepunkt hinaus.
(…)
als die turmglocke zum gebet läutet, sind alle glücklich & zufrieden.
Florian Neuner, Brucknermaterial
Mit einem Beitrag von Christoph Herndler
ISBN 978-3-99156-010-4
© 2024 Klever Verlag, Wien
klever-verlag.com/buecher/brucknermaterial
Lesung: Florian Neuner, Brucknermaterial
Stifterhaus, 05. Dezember 2024, 19:30 h