Theaterrundgang, Theatergedanken, Doppelpunktketten: Theatertourist Ralf Petersen beginnt mit einem Laientheatergastspiel, unternimmt einen Gedankenexkurs zur Maschine Theater und einen Realexkurs in den Offspace DH5 – und berichtet vor allem in halluzinatorischer Postkartenform von einigen „spritzig amüsanten“ Aufenthalten im Land der Liebe: Dem Schauspielhaus Landestheater.
Es beginnt mit einem Gastspiel: Der Theaterverein St. Martin im Innkreis ist zu Besuch. Auf Einladung des Amateurtheaterverbands Oberösterreich wird präsentiert: Biografie: Ein Spiel von Max Fritsch (Uraufführung 1968, gespielt wird die überarbeitete Fassung von 1984), jenem Schweizer Schriftsteller, dessen Schaffen um die Auseinandersetzung mit dem Selbst kreist. Es ist der sechste Oktober und düster: Es wird wieder dunkel draußen, am Abend. Und dieser Abend: Düster ist er allemal. Das dargebotene Gedankenspiel: Die Rekonstruktion der eigenen Biografie: Wenn du dein Leben von einem bestimmten Zeitpunkt aus noch einmal beginnen könntest, mit dem Wissen, das du bereits erlangt. Ein todkranker Verhaltensforscher (Theaterverein-Obmann Florian Wimmer als Hannes Kürmann) lässt sich an Schlüsselerlebnisse des eigenen Lebens führen, zum Beispiel: Als er seine Frau Antoinette (Katharina Wimmer) kennengelernt hat, der seine Spieluhr so gut gefallen hat. Die Frau war auf einmal da, in seiner Wohnung. So zieht es den Zuschauer hinein, in die Mutmaßungen: Ein Was-wäre-wenn? ist niemals fad. Auch ich zieh die Brille fest, wills jetzt wissen: Wie hätte es sein können, das Leben? Das ja wirklich ein Spiel ist, das man gewinnen kann oder verlieren. Gewinnen heißt durchgespielt haben, alle Missionen erledigt, auch die Nebenaufgaben, überall hundert Prozent. Alles erfüllt, alles erreicht. So wandert der postmoderne Mensch auf der Karte umher: Nichts mehr zu tun! Das wars dann! Aber: Versuchen Sies doch einmal mit der Rückbesinnung. Ja, die Frau, die war auf einmal da. Aber vorher gabs doch auch Frauen? Und wie ists mit der Schneeballschlacht, als Kind, wo (Stein im Schneeball!) dem Kameraden das Auge aus dem Kopf gefallen war. Wer sich rückanbindet, an das vorher Geschehene, entkommt den Wirren der Welt nie. Glück gehabt. Der Theaterverein St. Martin i. I. überzeugt mit seinen Darbietungen: Die simple Umsetzung (Regie: Kay Melaun), das Spiel, das aus dem Hölzernen jederzeit in große Bühnenform kippen kann: Hier wird ein Theaterraum geschaffen, der das Spektakel übersteigt.
Gedankenexkurs zur Maschine Theater an sich: Der Gastgeber, das Schauspiel selbst, hat es meist nicht so leicht wie der gastierende Verein, der sich nicht limitieren lässt: Bei der Stückauswahl, der Spielplanprogrammierung muss immer geachtet werden auf Ausgewogenheit, die sowohl Abokartenbesitzerinnen als auch potentielle andere Interessierte anspricht: junge Leute zum Beispiel. Das Theater stellt Örtlichkeiten, die genutzt werden können, um sich über das Leben und seine endlich vielen Möglichkeiten zu freuen: Nicht alles ist machbar. Das Theaterhaus ist ein Symbol dafür, dass Gestaltung möglich ist, aber nicht grenzenlos. Es ist immer ein realpolitischer Ort! Was aber trägt sich täglich zu in so einem Theaterhaus? Was passiert an diesen Orten: Spielstätten, Foyers, Kassen, Garderoben für Gäste, Werkstätten, Lager, Kantine, Toiletten, Technikräume, Büros, Büros, Büros, Treppenhäuser, Aufzüge, Innenhöfe, Küchen, Besprechungsräume, Probebühnen, Garderoben für Spielerinnen, weiters Räume für: Kostüme, Ausstattung, Requisiten? Der oder die Fundus sind mitunter ausgelagert. Auf den Parkplätzen stehen Fahrzeuge verschiedener Größe. Dann gibts noch: Terrassen, Dachkammer (wo der Hausgeist wohnt), Kellerräume (evtl. mit Heizungsrohren: Wo der Dämon sich versteckt!). Wer arbeitet im Theater? Kantinenpersonal, Küche und Bar, Pförtnerinnen, Abenddienst (bei älteren Menschen beliebt oder auch bei Studierenden): rotierende Funktionen: Garderobe, Programmheftausgabe, Sitzplatzanweisung, Kasse extra, Gastronomie im Theaterbereich (Semmeln&Sekt: „Pinguine“; meist Verbindung zur Kantine); Schauspielensemble und Gäste, Dramaturgie und -assistenzen, Regie und -assistenzen, Bühne und -assistenzen, Kostüm und -assistenzen. Hier und da Hospitanz. Requisite. Und am Wichtigsten: die Technikerinnen und die fleißigen Schneider*innen und das Verwaltungspersonal (Buchhaltung usw.) – und die Presse nicht zu vergessen!
Die Spieluhr tickt: Wer kennt es nicht? An einer „banalen Biografie leiden“, wie sich im vorgetragenen Fritsch-Stück beklagt wird. Dieser Biografie für einen Abend zu entkommen, sitz ich erneut im Theater, werde zum Publikum. Um mich herum ist der ganze Saal im Rausch: Auf der Bühne spielts ein Lachvergnügen sondergleichen: Die Trilogie der Sommerfrische (Franzobel nach Carlo Goldoni). Es ist ein großer, ein aufrichtiger Spaß. Der verarmte Adel – diesen Umstand natürlich den andern verschweigend – begibt sich kollektiv, aber nicht gemeinsam auf Sommerfrische: Urlaub auf dem Land. Aber: „Wir fahren nicht nach Österreich“, heißts gleich. Weil sie schon da sind, am Land: In der Provinz? Sie sehen: Ich tratsche. Denn verstecken muss das Landestheater, größte Bühne weit und breit, sich nicht. Das Ensemble (besonders sensationell: Cecilia Perez und Lorena Emmi Mayer: Talent fürs Komische, mit Blicken und ihren Sätzen einfach am Regeln! Insgesamt bleibt mir nur Gutes für das Ensemble des Theaters über: Manch jemand mag etwas routiniert daherkommen, Motto „Rolle gefunden“, die jetzt immer spielen; aber im Grunde drehen alle ganz gut frei!) glänzt durch die Bank, die Bühne (Fabian Liszt), die Kostüme (Johanna Lakner)! Es liegt diese meine begeistert heitere Meinung natürlich an der Droge, die man uns einverleibt: Denn vor so viel Lachen tut mir gleich der Bauch weh. Die Trilogie der Sommerfrische (Inszenierung: Matthias Rippert): Eine Ode auf die Einfachheit, Einfälle, Inszenierungskunst und Illusion. Hurra! „Auf dem Land muss man Entourage haben“, heißts im Stück. Auch die in Gruppen erschienenen Gäste, die nach der Aufführung in die Tiefgarage und das Auto flüchten, die Stadt rasch zu verlassen, mögen da zustimmen. Hoffentlich haben die überhaupt nur Karten bekommen, weil die ganze Stadt schon da war! Stahlstadt, lach dich schlapp! Zum Schluss gibt das Stück lobenswerterweise eine Hausaufgabe: einen Reiseführer zu verfassen, für ein Land, das es nicht gibt: das Land der Liebe. Aber da will ich gar nicht hin, mir ist das Land des Lachens doch viel lieber.
Nun aber wieder runterkommen: Oh Gott! von Anat Gov (Deutsch von Gundula Schiffer) in den Kammerspielen. Wir dürfen dabei sein: Therapie mit dem alten, weißen Mann, der ALLES erschaffen hat, den jetzt aber NICHTS mehr freut: Mag dran liegen, dass er (Gott: Christian Taubenheim) keine Macht, keine Kraft mehr hat. Nun will er also alles beenden: Deus endet die Machina, die Bühnenmaschinerie. Droht, das Spektakel abzustellen, das Spiel. Abbruch! Aufgabe! Eine Therapeutin (Ella: Angela Waidmann) solls also richten. Gar nicht cool: Entweder du machst jetzt deinen Job oder die Welt ist vorbei: SO VIEL DRUCK. Die Aufführung (Inszenierung: Guy Ben-Aharon) relativiert diese senkrecht auf Körper und Geist wirkende Kraft allerdings, denn der Abend zieht sich sehr. Wenn er wirklich keine Lust mehr hat, der Deus, denk ich, sollt ers halt einfach lassen. Die Sendung einstellen. Sich an einem neuen Projekt probieren. So mit dem Wissen, das er jetzt hat. Litt Gott an einer banalen Biografie? Und Hiob verdammt, konnte man ihm das verzeihen, wie er mit dem, seinem ihn anhimmelnden, fleischlischen Vorzeige-Menschen umgegangen war, der Demiurg. Gesenkten Kopfes stolper ich über die Promenade, wünsche mir einen –
Exkurs in den Innenhof eines Offspaces in der Herren- und Damenstraße 5: Wrestling im DH5: Spaßkampf mit Kostüm und Bühnenpersönlichkeiten! Wicked! Einander auf die Matte schicken, in Strumpfhosen, mit Schminke im Gesicht! Eitrige gegen Brötchen, alte Scheiße gegen neue Scheiße!
Am 30. 10. verschlägt’s mich abermals ins Haus der Liebe, es spielt die Liebelei von Schnitzler (Uraufführung 1895 im Burgtheater). Wie ich mich freu, meine Lieblinge aus der Sommertrilogie wiederzusehen: An dieser Stelle sei einmal Markus Ransmayr hervorgehoben, der auch aus einer winzigen Rolle heraus den bleibendsten Eindruck zu machen weiß. Ich selbst hab einen Platz in der Mitte und bin ein wenig was spät dran: Dabei sollen die „Plätze in der Mitte früher kommen!“, so der freundlicher Hinweis meiner Sitzplatznachbarinnen: Ja, OK, nächstes Mal! Außerdem war ich nicht der Letzte: Noch MEHR in der Mitte drängte sich ein recht betagtes Pärchen, das sich während des Stücks die ganze Zeit die Hände streichelte: süß: die Liebelei! So hätts den Damen und Herren im Theaterstück auch ergehen können, hätten sie verzichtet auf Unaufrichtigkeit, und vor allem: auf Duelle! Ja: „Ein Duell also“ – „Warum?“
Gründe gibts aber natürlich genug, für den Kampf gegen die banalen Biografien und die Realpolitik.
Weiterer Text, auf der Bühne gesprochen: „Es war niemand da“, „Ich sag’s ja: Halluzinationen!“, „Es war so gemütlich, sag ich dir!“. Resümee meiner Sitzplatznachbarinnen: „Spritzig amüsant“.
Das Landestheater Linz ist das größte Theater in Oberösterreich. landestheater-linz.at
Weitere Termine der erwähnten Stücke:
Trilogie der Sommerfrische
Dezember 2024: 17.
Jänner 2025: 08., 22. & 29.
Februar 2025: 05. & 27.
Oh Gott!
Dezember 2024: 15.
Jänner 2025: 04., 15., 17. & 31.
Februar 2025: 24.
Der Theaterverein St. Martin im Innkreis spielt Laientheater für Erwachsene und Kinder.
theater-st-martin.at