Die Anarchismus-Textreihe in der Referentin widmet sich dem Anarchismus als eine der ersten sozialen Bewegungen überhaupt, zeichnet Porträts über frühe Anarchist*innen und benennt außerdem aktuelle Tendenzen im anarchistischen Denken und seiner Praxis. Dieses Mal verortet Gabriel Kuhn den Postanarchismus, der als Kind des Poststrukturalismus unter anderem Kritik an den alten ideologischen Modellen übt.
In den 1990er Jahren gewann „postmodernes“ und „poststrukturalistisches“ Denken auch in der Linken zunehmend an Bedeutung. Die „großen Erzählungen“ schienen an Bedeutung verloren zu haben, „Wahrheit“ wurde relativiert und universale Ansprüche kritisch beäugt. Der Poststrukturalismus war der akademische Ausdruck dieser Entwicklung. Mit Ausgangspunkt in den Theorien französischer Denker:innen wie Michel Foucault, Gilles Deleuze und Hélène Cixious rückten Begriffe wie „Diskurs“, „Differenz“ und „Dekonstruktion“ ins Zentrum gesellschaftlicher Analysen. Plötzlich war von „Postmarxismus“ die Rede, von „Postkolonialismus“ und von „Postideologie“.
Ein Anarchismus der anderen Art
Es ist kein Wunder, dass diese Entwicklung auch vor dem Anarchismus keinen Halt machte. In dem 2001 erschienenen Buch From Bakunin to Lacan sprach sich der australische Politikwissenschaftler Saul Newman für einen „Postanarchismus“ aus. Diesen beschrieb er so: „Der Postanarchismus ist eine politische Logik, die versucht, die egalitären und progressiven Aspekte des klassischen Anarchismus mit der Einsicht zu vereinen, dass radikale politische Kämpfe heute kontingent und pluralistisch sind, dass sie sich verschiedenen Identitäten und Perspektiven gegenüber öffnen und dass sie zahlreiche Fragen betreffen, nicht nur ökonomische“. Der Postanarchismus sei, so Newman, „ein Anarchismus der anderen Art, einer, dem seine ontologischen Fundierungen im Humanismus und in der Aufklärung genommen wurden“.
Was Newman und mit ihm sympathisierende Anarchist:innen an der Post-Theorienwelt besonders anregend fanden, war, dass es kein Zentrum der Macht mehr gab und der Widerstand vielfältig sein musste; dass der Ökonomie kein Primat zukam, sondern politische Kämpfe in allen gesellschaftlichen Bereichen wichtig waren; und dass Repräsentation (in jedweder Form) der Befreiung individuellen Begehrens (unabhängiger „Subjektivität“) im Wege stand.
In dem 2005 erschienenen Buch Gramsci Is Dead: Anarchist Currents in the Newest Social Movements entwickelte Richard Day die postanarchistische Theorie weiter. Im Gegensatz zu Newman verharrte Day nicht auf der rein akademischen Ebene. Er skizzierte ein Verständnis des Postanarchismus im Rahmen einer Auseinandersetzung mit sozialen Bewegungen. Das von Day eingefangene politische Momentum führte zu einer starken Rezeption seines Buches auch unter Aktivist:innen. Es war um vieles einflussreicher als die Abhandlung Newmans.
In Bezug auf eine mögliche Aufnahme von Gilles Deleuze in den „anarchistischen Kanon“ (Deleuze selbst bezeichnete sich nie als Anarchist) meinte Day in seinem Buch: „Es ist verständlich, wenn man ihn aufnehmen will. Es macht theoretisch wie politisch Sinn. Das Entscheidende ist meines Erachtens, dass der Anarchismus und der Poststrukturalismus sowohl Fragestellungen als auch ethische und politische Bekenntnisse teilen. So lässt sich auf anarchistische Elemente in der Arbeit der französischen Autor:innen des späten 20. Jahrhunderts verweisen, die Nietzsches Kritik am Humanismus und an der Aufklärung aufgegriffen und weiterentwickelt haben.“ Bezugnahmen auf Friedrich Nietzsche und den als Ahnherrn des individualistischen Anarchismus geltenden Max Stirner (Der Einzige und sein Eigentum, 1845) sind für den Postanarchismus charakteristisch. Das erklärt unter anderem, warum er bei „Sozialanarchist:innen“, die sich auf die kollektiven Dimensionen des gesellschaftlichen Zusammenlebens konzentrieren, wenig beliebt ist.
Zu Verbindungen anarchistischen und poststrukturalistischen Denkens kam es nicht nur in der englischsprachigen Welt. In Frankreich erschien im Jahr 2001 ein Buch des Soziologen Daniel Colson mit dem Titel Petit lexique philosophique de l’anarchisme de Proudhon à Deleuze. Für Colson war die Aufnahme von Deleuze in den anarchistischen Kanon eine Selbstverständlichkeit. In persönlicher Korrespondenz mit dem Autor dieser Zeilen erklärte er dies so: „Auf der Ebene des Denkens hat Deleuze am Ende des 20. Jahrhunderts die wichtigsten Anstöße für eine Erneuerung des Anarchismus gegeben. Es ist ihm zu verdanken, dass wir besser verstehen, wie der Anarchismus – diese junge und marginale Bewegung, die Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa geboren wurde – eine eigene Ontologie entwickeln und ein revolutionäres Projekt werden konnte.“
Ein neues Denken, eine Aktualisierung der Staatskritik
Im deutschsprachigen Raum wurde der Begriff des Postanarchismus vor allem durch die Arbeiten Jürgen Mümkens bekannt. Mümken rief auch die Website postanarchismus.net ins Leben. Er kreiert keinen Gegensatz zwischen „klassischem Anarchismus“ und „Postanarchismus“. Ihm geht es primär um Anregungen für eine zeitgenössische anarchistische Theorie. Sein Referenzpunkt ist nicht Gilles Deleuze, sondern Michel Foucault. Im Jahr 2012 erklärte er in einem Interview: „Mir ist es von Anfang an nicht darum gegangen, mich vom klassischen Anarchismus abzugrenzen, mir geht es nur um eine – meiner Meinung nach – notwendige Aktualisierung anarchistischer Theorie und Praxis. Für mich ist ‚Postanarchismus‘ mehr eine Art zu denken, Dinge noch einmal anders zu analysieren. Eine anarchistische Gesellschaft ist für mich keine Gesellschaft, die durch die Abwesenheit von Macht gekennzeichnet ist, sondern die Ordnung einer anarchistischen Gesellschaft ist darauf ausgelegt, dass sich aus umkehrbaren Machtverhältnisse keine starren Herrschaftszustände entwickeln.“
Auch wenn Mümken den Begriff des Postanarchismus im deutschsprachigen Raum einführte, so reichen Auseinandersetzungen mit dem Poststrukturalismus innerhalb der anarchistischen Bewegung weiter zurück. In Berlin gab es bereits in den 1970er Jahren einen anarchistischen Buchladen mit dem Namen Rhizom, einem Begriff aus dem Theoriengebäude von Gilles Deleuze und seinem langjährigen Mitarbeiter Félix Guattari. Der Begriff des Rhizoms stammt aus der Botanik und bezeichnet ein unübersichtliches Wurzelsystem. Die Betreiber des Buchladens erklärten Jahre später, dass Deleuze und Guattari gezeigt hätten, „dass man die anarchistische Staatskritik weiter entwickeln kann für das 20. und 21. Jahrhundert“. Auch die postanarchistische Stirner-Rezeption Saul Newmans hat einen Vorläufer im deutschsprachigen Raum. In seinem 1988 erschienenen Einführungsband Michel Foucault zog der Schweizer Philosoph Urs Marti im Kapital „Anarchistische Sympathien“ Parallelen zwischen dem Denken Max Stirners und dem Poststrukturalismus.
Alte Bärte, neue Hüte?
Postmodernes und poststrukturalistisches Denken hat auch zeitgenössische Anarchist:innen beeinflusst, die nicht von „Postanarchismus“ sprechen oder sich auf postmoderne und poststrukturalistische Theorie beziehen. Doch der „small-a anarchism“ eines David Graeber oder der Abstand, den das einflussreiche CrimethInc.-Kollektiv von den „alten Männern mit den Bärten“ nimmt, spiegeln einen Zeitgeist wider, der alten ideologischen Modellen misstraut.
Der Begriff des Postanarchismus wurde vor allem in akademischen Zusammenhängen forciert. Das rief bei anarchistischen Aktivist:innen auch Skepsis hervor. Als anarchistische Jungakademiker:innen Anfang der 2000er-Jahre die Online-Plattform postanarchism.org ins Internet stellten, meldete sich eine bekannte Figur aus der anarchistischen Szene San Franciscos zu Wort: „Ich denke, dass die meisten von euch viel zu beschäftigt mit eurer universitären Karriere sein werden, um eure ‚Kritik‘ auch wirklich auf zwischenmenschliche Beziehungen und politischen Aktivismus zu übertragen. Wenn wir noch einen weiteren Haufen unlesbarer Philosoph:innen zu unserer bereits jetzt unlesbaren Philosophie hinzufügen, dann bringt uns das einen weiteren Schritt hin zu … ja, was eigentlich? Ich fürchte, dass all dies nur einigen Männern helfen wird, akademische Titel zu ergattern.“
Die Kritik lässt sich diplomatischer formulieren, hat aber zweifelsohne ihre Berechtigung. Ein Saul Newman, eingangs erwähnter Autor von From Bakunin to Lacan und Befürworter eines Postanarchismus, spielt für den praktischen Anarchismus kaum eine Rolle, in aktivistische Zusammenhänge ist er nicht eingebunden. Dennoch hat die postanarchistische Diskussion wichtige Fragen aufgeworfen, die sich dem Anarchismus – wie allen Bewegungen mit revolutionärem Anspruch – zu Beginn des 21. Jahrhunderts stellen: Wie geht es weiter mit einer antikapitalistischen Politik, wenn sich die Universalansprüche linker Theorie im 20. Jahrhundert nicht einlösen ließen? Wie verhält man sich zu einer zunehmenden Pluralisierung der Lebensverhältnisse, zu Schnelllebigkeit und einer immer höheren Mobilität? Wie sieht revolutionäre Politik im Zeitalter des Neoliberalismus aus? Letztere Frage stellt für den Postanarchismus eine besondere Herausforderung dar. Fordert er den Neoliberalismus heraus, oder ordnet er sich mit seiner Propagierung von Differenz, Flexibilität und Pluralismus dessen Logik unter? Die eine wichtige Antwort: Der praktische Ausdruck der Ideale des Anarchismus muss sich an den kulturellen und historischen Bedingungen orientieren, unter denen anarchistische Bewegungen aktiv sind. Die andere Antwort: Neue Namen bedarf es dafür genauso wenig wie Behauptungen theoretischer Quantensprünge, die keine sind.
Die Anarchismus-Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch, bzw der Gruppe Anarchismusforschung entstanden, die ebenso Themen und Autor*innen der Reihe betreut.
Siehe auch: anarchismusforschung.org