Das Schöne am Eintauchen in ein vermeintlich lokales kulturgeschichtliches Thema ist, welche Vielzahl an unerwarteten Welten sich eröffnen. Das erlebte Veronika Barnaš während der Mitarbeit an der Ausstellung „Urfahraner Markt – 200 Jahre Linzer Lustbarkeiten“. Für die Referentin schrieb sie über oberösterreichische SchaustellerInnen – von Urfahr bis in den „Orient“.
Beim Blick hinter die Kulissen des größten Jahrmarkts Österreichs war die größte Überraschung für mich die Entdeckung der Berufsgruppe der SchaustellerInnen. Als solche bezeichnen sich die BesitzerInnen und BetreiberInnen der unterschiedlichen Fahrgeschäfte wie Kettenkarussell, Autodrom, Riesenrad und Hochschaubahn sowie von diversen Schießbuden. Dass der Wiener Prater z. B. seit Generationen von einigen wenigen Schausteller-Familien betrieben wird, die dort auch leben, ist landläufig bekannt. Die Frage, wer die Kettenkarusselle und Autodrome auf den Kirtagen, Stadt- und Dorffesten sowie Weihnachtsmärkten betreibt, kam mir allerdings nie in den Sinn.
Die bewegten (Familien-)Geschichten, die sich bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts nachvollziehen lassen und die sich in verändernden Lebens- und Arbeitsbedingungen widerspiegeln, sowie die Verwandtschaft der oberösterreichischen Schausteller-Familien untereinander, kamen zur Überraschung hinzu.
Wer kennt heute noch die „Erste europäische Todeskugelfahrerin“ Theresia Sonnberger – eine der fünf Sonnberger-Schwestern? Aus einer alten Schaustellerfamilie stammend, trat sie in den 1930ern mit Heinrich Straßmeier sehr erfolgreich unter dem Künstlernamen „Heinz und Gitta Gordon“ auf. Mit Motorrädern in einer Stahlkugel fahrend unterhielten sie die BesucherInnen – „Stirbt heute eine/r oder nicht?“ Theresia Sonnberger verließ zwar das Metier und wurde „privat“, ihre Schwester Olga heiratete allerdings in die Schausteller-Familie Rieger. Eine weitere der „Sonnberger-Girls“, Aloisia, heiratet wiederum Heinrich Straßmeier und auch ihre Nachfahren sind heute noch am Urfahraner Markt tätig.
Oder wer kennt heute noch die Geschichte von Johannes Mayerott (1840–1909), der mit seinem „Panorama“ (einer Vorstufe der Kinematografie) 30 Jahre lang durch Europa und bis den „Orient“ reiste? Das Panorama war ein in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts populäres Freizeitvergnügen. Es ermöglichte mehreren Personen gleichzeitig, stereoskopische Bilderserien in automatischer Abfolge durch ein Guckloch zu betrachten. Gezeigt wurden hauptsächlich exotische, aber auch erotische Motive. Mit der Erfindung der Kinematographie im Jahr 1895 ging die Zeit der Panoramen zu Ende. 1905 stellte Johannes Mayerott den Betrieb ein und starb 1909 in Urfahr. Seine Töchter Auguste, Franziska und Emma führten das Gewerbe der fahrenden Schaustellerinnen in unterschiedlichster Weise fort – Auguste Seitz betrieb ein Wanderkino, während ihre Schwester Emma Strobl u. a. als Wolfsdompteurin auftrat.
Auch den Ururenkel von Johannes Mayerott zog es sehr weit in die Welt hinaus: Erich Avi und seine Frau Elfriede fuhren, in den 1990er-Jahren, sieben Jahre lang mit dem selbsterfundenen Fahrgeschäft „Typhoon“ (600 qm Grundfläche, 200 t) über Hamburg und Antwerpen nach Zypern, wo sie mehrere Jahre Station machten. Der Anlass bzw. Auslöser für die Reise war simpel wie drängend – endlich der Kälte im Wohnwagen in den österreichischen Gefilden zu entkommen. Danach fuhren die Avis durch den Nahen Osten, mit Stationen u. a. im Libanon, Oman, Katar und Bahrain und weiter über Dubai bis nach China. Dort lebten und arbeiteten sie eineinhalb Jahre in Shanghai und Peking. Alles ohne vorherige Sprach- und Ortskenntnisse, natürlich selbst am Steuer der tonnenschweren Lastenzüge und mit dem Ziel, zumindest genügend Geschäft für den Rücktransport zu verdienen (rund 150 000 Euro). Die sogenannten „Rekommandier-Kommandos“ („Kommen Sie! Steigen Sie ein! Bitte anschnallen!“ etc.) wurden von Elfriede Avi von z. B. arabischer Lautschrift abgelesen. Mit dabei immer zwei Reisepässe und das gesamte Bargeld am Körper, um gegebenenfalls rasch das Land verlassen zu können, was sich zumindest einmal als notwendig erwies. Im Nahen und Fernen Osten herrschen andere Gesetze. In China verkaufte das Ehepaar Avi schließlich „Typhoon“, welches heute noch in Dubai in Betrieb ist. Heute betreiben sie noch einige Kindergeschäfte u. a. am Urfahraner Markt und die Ideen für neue gehen ihnen nicht aus.
Natürlich sind dies zwei sehr außergewöhnliche Geschichten, bei der die Faszination neben der Abenteuerlust der SchaustellerInnen, wohl nicht zuletzt mit den Klischees und dem Sehnsuchtsort des „Orients“ zusammenhängt.
Die sicher auch abenteuerliche wie typische Route oberösterreichischer SchaustellerInnen bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts führte vom Urfahraner Frühjahrsmarkt über Ried, Kufstein, Wörgl und Schwaz wieder zurück nach Wels und Ried. Der Urfahraner Herbstmarkt im Oktober markierte für viele das Ende der Saison. Die größere Tour folgte immer der Sonne nach – im Sommer über Villach in den Norden nach Deutschland und im Herbst über den Brenner nach (Süd-)Italien, wo man gerne den Winter verbrachte. Im Winter wurden die Fahrgeschäfte und Wohnwagen repariert und teilweise auch Saisonarbeit angenommen. Bis in die 1930er-Jahre reisten die SchaustellerInnen oft nur mit von Pferden gezogenen Wohn- und Lastenwagen (auch über die Alpen). Später wurden die Wohnwägen und Fahrgeschäfte mittels Zug transportiert. Die Kinder waren selbstverständlich immer dabei, mussten/durften mitarbeiten und lernten das Handwerk und Geschäft von der Pike auf. Dieser Umstand brachte mit sich, dass Kinder und Jugendliche bis in die 1970er-Jahre offizielle „WanderschülerInnen“ waren, was bedeutete, dass sie oft alle paar Tage, je nach Jahrmärkten und Route, die Schule wechselten. Schulstempel dokumentieren dies im sogenannten „Wanderschulbuch“. Die WanderschülerInnen waren beliebte KlassenkollegInnen, da sie natürlich auch Jetons verteilten und so Freifahrten ermöglichten. Ab der Mitte der 1970er-Jahre war das WanderschülerInnenleben dann zu Ende und wurde durch ein anderes Extrem ersetzt – das Internat.
In den Gesprächen mit den verschiedenen SchaustellerInnen bestätigte sich auch, dass sie lange mit den Stereotypen und Vorurteilen des so genannten „Fahrenden Volkes“ – im positiven wie negativen Sinne – assoziiert und konfrontiert wurden. Früher wurden unter diesem Begriff zahlreiche Professionen zusammengefasst wie mobile HändlerInnen, wandernde Heilkundige, Quacksalber, Theater- und Puppenspieler und Artisten wie Seiltänzer, Athleten oder Zauberer.
Die „Freiheit“ des Unterwegsseins, das Risiko, das Spektakel und das „Fremde“, mitunter Exotische, das sie lebten und in entlegene Ortschaften brachten, hatte seinen Reiz. Ihre durch und durch „anti-bürgerliche“ Lebensweise wurde zugleich mit Sehnsucht und Abwehr belegt. Und doch waren SchaustellerInnen durch ihre Hautfarbe und Sprache und nicht zuletzt durch die entsprechenden Lizenzen und Genehmigungen anerkannt, „zugehörig“. Ganz im Gegensatz zu vielen Roma und Sinti, die v. a. als fahrende Händler arbeiteten. Diese hatten kaum Genehmigungen oder Staatsbürgerschaften, was sich nach dem Überleben und Ende des Zweiten Weltkriegs als fatal für ihren weiteren Lebensweg herausstellte. Die österreichische Bürokratie verweigerte ihnen ob der „fehlenden“ Nachweise teilweise bis in die 1990er-Jahre die Staatsbürgerschaft, und somit auch Gewerbelizenzen, verunmöglichte also legales Arbeiten. Schausteller-Familien besitzen übrigens bis heute Wanderbücher, in denen man Route und Standorte durch offizielle Stempel von Gemeinden bis über 150 Jahre zurückverfolgen und nachweisen kann.
Viele der Schausteller-Familien erwarben erst ab den 1950er-Jahren Grund und wurden oft erst in den 1970er-Jahren quasi sesshaft. Christine Avi (geb. Schlader) verkaufte z. B. über amerikanische Besatzungssoldaten ein Pferdekarussell in die USA und konnte dadurch einen Grund in Wels erwerben, auf dem dann ein Wohnhaus und Lager gebaut wurde.
Die Rolle der Schaustellerinnen und Frauen von Schaustellern war schon immer eine starke und sehr präsente, und dies nicht erst seit dem Männermangel während des Ersten und des Zweiten Weltkriegs. Sie waren und sind nicht nur für Kinder und Haushalt verantwortlich, sondern auch in alle Bereiche des Unternehmens eingebunden – als Buchhalterin, Logistikerin, Erfinderin, Lastwagenfahrerin, Kassiererin und mehrsprachige Rekommandeurin am Mikrofon.
Bei den zahlreichen Gesprächen mit den zwei Familien Schlader (Linz und Wels), Avi, Gschwandtner, Straßmeier und Rieger wurde immer wieder erwähnt, dass sie alle irgendwie verwandt seien. Einen gemeinsamen Stammbaum gäbe es aber nicht. Ob meiner Leidenschaft in unterschiedlichster Form mit und zu Biographien sowie Lebenswegen zu arbeiten, war dies gleich ein besonderer Reiz. Nach und nach, wie ein Puzzle und durch viele Telefonate konnte ich die erste Fassung eines gemeinsamen Stammbaums von einigen oberösterreichischen Schausteller-Familien erstellen: ausgehend von Georg Schlader (1841–1847) und seiner Gattin Theresia (geb. Juretka, 1847–1928), deren Nachfahren die Familien Schlader (Wels und Linz) und Gschwandtner sind, die durch Heirat mit den Familien Avi, Bachmair und Wiesbauer verbunden sind, sowie auch mit den Familien Deisenhammer und Schorn verwandt. Die erste Version dieses Stammbaums ist neben zahlreichen Photos, Dokumenten, Interviews und Exponaten von und zu den Schausteller-Familien in der Ausstellung „Urfahraner Markt. 200 Jahre Linzer Lustbarkeiten“ im NORDICO Stadtmuseum Linz zu sehen und kann dort auch ergänzt und erweitert werden.
Was allen Schausteller-Familien, die ich traf, gemein ist, ist eine ungebrochene Leidenschaft für ihren Beruf, der starke Familienzusammenhalt, eine große Menschenfreundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Außerdem ein gewisser Stolz auf ihre Berufsgruppe, der sich nicht zuletzt dadurch ausdrückt, dass zugeheiratete Personen, die nicht aus Schausteller-Familien stammen, „Private“ genannt werden. Der oder die sei ja „von Privat“.
Trotz der Begeisterung für ihr Metier erteilen sie geschlossen einer falschen Romantik eine Absage. Sie sind UnternehmerInnen, die seit dem Aufkommen der Kinderfahrgeschäfte auf Weihnachtsmärkten und der inzwischen zahlreichen Nachfrage von Firmenfeiern quasi das ganze Jahr arbeiten. Teils unter widrigsten (Wetter-) Bedingungen und weder Gewinn noch Verlust des Tages wirklich voraussehend. Und vor allem fahren sie weiterhin. Inzwischen allerdings sternförmig von ihrem jeweiligen Wohnsitz weg (u. a. Wels, Linz, Traun, Marchtrenk) und mit entsprechend schweren und modernen Lastenzügen.
Ihr Geschäft ist es, weiterhin die Leute glücklich zu machen.
Veronika Barnaš arbeitete bei der Ausstellung „Urfahraner Markt. 200 Jahre Linzer Lustbarkeiten“ im NORDICO Stadtmuseum Linz im kuratorischen Team gemeinsam mit Andrea Bina und Georg Thiel sowie als Redakteurin für den Ausstellungskatalog. Für die Ausstellung hat sie, an einem Berührungspunkt zur eigenen künstlerischen Arbeit, eine erste Fassung eines gemeinsamen Stammbaums von einigen oberösterreichischen Schausteller-Familien erstellt, der ebenfalls in der Ausstellung zu sehen ist. Die Referentin hat Veronika Barnaš gebeten, quasi von hinter den Kulissen des Jahrmarkts zu berichten, und speziell an der Überscheidung zu den eigenen künstlerischen Interessen ganz konkret über die Schausteller-Familien zu schreiben.
Veronika Barnaš ist Künstlerin, Kuratorin und Projektentwicklerin. Sie arbeitet forschend, orts-/kontextbezogen und genreübergreifend (Bildende Kunst/Literatur/Theater) – von Inszenierungen und Bühnenbildern über Installationen bis hin zu Mappings von historisch-biografischen Zusammenhängen („Subjektive Kartographien“). Produktionen für das Volkstheater Wien: u. a. Ich bin Zeuge! (Ge-)denksoirée zu den Novemberpogromen 1938, 2014; Ich gehe. Ein szenisches Essay nach Texten von Brigitte Schwaiger, 2013; Auftauchen gemeinsam mit Julya Rabinowich, 2010. Sowie freie Produktionen: u. a. Souvenir. Subjektive Kartographien von Israel (2013–), unORTnung – Eine Ausstellungsreihe in Wien (2006–2010).
Geboren 1978 in Wien. 1999–2006 Studium an der Kunstuniversität Linz – Meisterklasse „Metall“ und MA in der Studienrichtung „raum & designstrategien“. Seit 2014 Univ. Ass. für Künstlerische Praxis am Institut für Kunst und Bildung, Kunstuniversität Linz. Lebt und arbeitet in Wien und Linz.
Ausstellung
„Urfahraner Markt. 200 Jahre Linzer Lustbarkeiten“
NORDICO Stadtmuseum Linz
3. Februar bis 21. Mai 2017
Katalog
Andrea Bina, Georg Thiel
Urfahraner Markt
200 Jahre Linzer Lustbarkeiten
Herausgeber: NORDICO Stadtmuseum Linz
ISBN: 978-3-7025-0859-3
Verlag Anton Pustet, Salzburg