Die Referentin bringt seit mehreren Ausgaben eine Serie über frühe Anarchist_innen und frühe soziale und politische Bewegungen, die im Zeichen von kämpferischer Befreiung standen. Zur Communardin und Anarchistin Louise Michel und die Pariser Commune von 1871 ist ein Roman von Eva Geber erschienen. Darüber berichtet Andreas Gautsch.
„Im Namen des Volkes: Die Commune ist proklamiert.“ Es gab keinen Diskurs, kein Gegenwort, nur der Ruf: „Es lebe die Commune“ schallte über den Platz. Die Feier schloss mit den Worten: „Die Commune wird ihre Aufgaben erfüllen.“
So schildert Eva Geber in ihrem Roman den historischen 28. März 1871. Zehn Tage zuvor hatte sich die Bevölkerung von Paris erhoben, um ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Eine der berühmtesten Communard*innen war die Revolutionärin Louise Michel. Heute noch gibt es in Frankreich dutzende Plätze und Straßen, die ihren Namen tragen. Hierzulande ist sie weniger bekannt, vielleicht unter politisch und historisch Interessierten oder im überschaubaren Kreis von Anarchist*innen. 2018 erschien nicht nur Eva Gebers Roman über eine der wohl außergewöhnlichsten Persönlichkeiten der Geschichte, sondern sie hat in einem kleinen Begleitband Artikel und Reden von Louise Michel übersetzt und diese somit, nach mehr als 100 Jahren, erstmals einem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht. Beide Bücher sind im libertären Wiener Verlag bahoe books erschienen.
Der Werdegang einer Revolutionärin
Der Roman erzählt Michels Geschichte detailreich. Geschickt eingewoben sind Verweise sowie Zitate aus ihren Tagebüchern, Artikeln und Gedichten. Er ist wie ein langer Monolog, in dem die Protagonistin als alte Frau, im Lehnstuhl sitzend, umgeben von ihren Katzen, die Ereignisse Revue passieren lässt. Ganz nah an der Erzählfigur wird man mitten ins Geschehen geführt und eine andere Welt eröffnet sich.
Am 18. Mai 1830, im kleinen Ort Vroncourt, in der heutigen Region Grand Est, wurde Louise Michel geboren. Sie war das uneheliche Kind von der Dienstmagd Marie-Anne Michel und dem Sohn des Schlossherrn. Zur Mutter hatte sie Zeit ihres Lebens ein inniges Verhältnis. Der Vater erkannte das Kind zwar nicht an, dessen Eltern jedoch nahmen sich ihrer an und erzogen die Enkelin im Geiste der Aufklärung. „Voltaire, Rousseau und katholischer Mystizismus – was für eine verwirrende, reiche und die Phantasie bestürmende Welt, aus der sich mein Wunsch nach Gestaltung, Veränderung, Revolution entwickelte, der ebenso zu fanatischem Eifer führte, wie es bei der Avantgarde nicht anders sein kann.“
So wurde aus dem aufgeweckten Mädchen, das als Jugendliche in Briefkontakt zu Victor Hugo trat (woraus sich eine lebenslange Freundschaft entwickelte), schließlich eine ausgebildete Lehrerin, die nach Paris ging und 1853 ihre erste Freie Schule eröffnete. Da sie das Schulgeld sehr niedrig ansetzte, konnte sie selbst kaum davon leben. Daneben gab sie mit Kolleginnen Kurse für Frauen, Mütter und junge Menschen im Sinne eines kritischen Geistes sowie einer grundlegenden Rechtskunde und engagierte sich gegen das autoritäre Regime von Napoleon III. Für Michel bedeutete dies auch eine erste nähere Bekanntschaft mit Polizei und Gericht. Aber die Samen proletarischer und republikanischer Bewegungen waren schon gekeimt.
Aufstieg und Fall der Pariser Commune
1870 zettelte Napoleon III. einen Krieg mit Deutschland an, verlor diesen und musste abdanken. Die 3. Republik wurde ausgerufen und es kam zu Wahlen. Die Armee von Kaiser Wilhelm I. stand aber nun vor Paris, und während die neue monarchistisch-konservative Regierung die Kapitulation ausverhandelte, erhob sich die republikanisch gesinnte Bevölkerung von Paris und rief die Commune aus. Die Regierung floh mit regierungstreuen Generälen und ihren Truppen nach Versailles. „Die radikalsten Kräfte forderten den sofortigen Marsch auf Versailles, er wurde dann aber nicht unternommen. Das Streben nach vollständiger Autonomie der Stadt überwog den Wunsch nach einer politischen Revolution in ganz Frankreich. Da die Versailler ja besiegt waren, folgten wir ihnen nicht. Das war der große Fehler.“
Eva Geber lässt die Ereignisse und Stimmung in der Stadt einprägsam wieder auferstehen und die Leser*innen an der in die Commune gesetzten Hoffnung teilhaben. „Wir sprachen über das Ende des Privateigentums ebenso wie über die Notwendigkeit, Heizmaterial aufzutreiben. Es ging um eine neue Form der Frauenarbeit und das Ende der ökonomischen Kluft. Dazu kam der Kampf auf den Barrikaden, Sandsäcke füllen, Organisation der Ambulanzen und der Suppenküchen.“ So viel gab es zu tun. Es ging auch um eine Veränderung des Schulwesens, es sollte öffentlich, obligatorisch und kostenlos sein und frei von religiösen Symbolen. Selbst 150 Jahre später ist in dieser Hinsicht die Pariser Commune unserem gegenwärtigen Bildungssystem voraus. In einem Appell im Pariser „Journal officiel“ vom 11. April forderten die Communard*innen grundlegend andere Produktionsverhältnisse:
„‚Wir wollen die Arbeit, aber das Produkt muss uns gehören, Schluss mit Ausbeutern und Herrn. Arbeit und gutes Leben für alle‘.“
Am 3. April zogen Louise Michel und andere Frauen mit dem 61. Bataillon schließlich nach Versailles, um die Regierung zu bezwingen. Der Versuch scheiterte. Ein Monat später fielen die Regierungstruppen mit Hilfe preußischer Artillerie in Paris ein. Barrikade für Barrikade wurde eingenommen. Louise Michel verteidigte mit ihrem Frauenbataillon eine der letzten in Place Blanche. Das Massaker der Regierungstruppen, bei dem 35.000 Menschen getötet wurden, ging als „blutige Maiwoche“ in die Geschichtsbücher ein. Anschließend kam es laufend zu Verhaftungen und Hinrichtungen. „Im diesem blutigen Mai und Juni starben die Schwalben von Paris, vergiftet von den Fliegen, die sich von den Leichen ernährten.“ In dieser Zeit der Kämpfe und Hinrichtungen dichtete Eugène Pottier den Text der Internationale „Völker hört die Signale!“
In der Verbannung in Neukaledonien
Louise Michel wurde ebenfalls verhaftet und mit anderen Communard*innen auf die Insel Neukaledonien verbannt. Auf dieser Überfahrt im September 1873, eingepfercht in einem Käfig, wurde Michel zur Anarchistin. Eva Geber lässt sie im Roman folgende Beobachtung über die korrumpierende Macht sprechen: „Jeder, der an die Macht gekommen war, wurde zum Verbrecher. Vor allem wenn er charakterschwach und gierig war. Das halte ich für die Regel.“ Diese Regel hat wohl immer noch ihre Gültigkeit, müsste jedoch damit ergänzt werden, dass vor allem ein opportunistisches Verhalten zur Macht führt.
Das Leben auf der Insel machte Michel wenig zu schaffen, sie fand viele neue Betätigungsfelder. Eines davon war die Niederschrift der Legenden, die ihr die Kanaken, so die Selbstbezeichnung der Einheimischen („Kanak“ bedeutet Mensch), erzählten. Einen Auszug davon hat Eva Geber übersetzt und in der von ihr herausgegebenen Textsammlung veröffentlicht.
Im Juli 1880 erfolgte die Amnestierung der Verbannten. „Aber später wollte ich zurückkehren, mein Versprechen einlösen, eine wunderbare Schule errichten, überdies selbst die Indigenen studieren, die Pflanzen, die Tierwelt und die wilde Landschaft genießen. Und die Zyklone. Eine Wilde unter Wilden. So antwortete ich aus voller Überzeugung: ‚Ich werde wiederkommen.‘“
Die Agitatorin
Wieder in Paris stürzte sich Louise Michel in politische Aktivitäten, die sich nun um eine antikoloniale Perspektive erweitert hatten. „Wie können wir für Gleichheit eintreten und diese Frage nicht mitdenken? Ich denke an die Kanak und an die Araber – gleichzeitig mit der Commune hatten die Algerier ihren Freiheitskampf begonnen. Ein großes Versäumnis der Commune war gewesen, dass wir keine Solidarität mit den Aufständischen geäußert hatten. Und wir waren auch nicht beschämt, dass Algerier uns ihre Solidarität mit der Commune versichert hatten.“
Am 9. März 1883 nahm sie an einer Demonstration von 15.000 Arbeitslosen teil, bei der es zu Polizeiübergriffen und Plünderungen kam. Michel kam vor Gericht und bewies dort ihre Schlagfertigkeit und Sympathie für Diplomatie. „Der Richter fragte mich, ob ich an allen Kundgebungen teilnähme? Ich antwortete: ‚An allen Demonstrationen der Elenden.‘ Dann wollte er wissen, welches Ereignis ich mir von besagter Demonstration erhofft hatte. Ich sagte, dass nie eine friedliche Demonstration zu einem Ergebnis führe, aber die Hoffnung bleibe.“
Das Ergebnis waren 6 Jahre Haft und 10 Jahre Polizeiaufsicht. Nach drei Jahren kam die Begnadigung und sie setzte ihre Agitationstätigkeit, zum Missfallen vieler, fort. Ein geistig verwirrter Mann verübte 1888 nach einem Vortrag ein Attentat auf sie. Eine Kugel traf sie an der Schläfe, eine blieb im Hutfutter stecken. Gegenüber dem Richter stellte sie anteilnehmend fest: „‚Der Mann braucht eher einen Arzt als einen Richter‘“. Der Attentäter wurde schließlich freigelassen. Zu den aufkommenden Attentaten, die in den 1890er Jahren von Anarchist*innen verübt wurden, nahm Michel in einem Interview Stellung. Ihr wären andere Methoden lieber, meinte sie, „zum Beispiel Tyrannenmorde, aber wir leben in dieser revolutionären Zeit.“
Michels Biographie ist vollgespickt mit Ereignissen, die ihrem unermüdlichen Eintreten für Gleichheit und Gerechtigkeit geschuldet sind. Diese Energie ist mitunter ansteckend. Doch auch das Herz einer Unermüdlichen verliert an Kraft. Trotz Erkrankungen und Erschöpfung reiste Louis Michel zwar von Vortrag zu Vortrag quer durch Frankreich. Aber sie war bereits gezeichnet. Ihre letzte Vortragsreise, auf die sie sich mit ihrer langjährigen Gefährtin Charlotte Vauvelle begab, führte sie 1904 durch Algerien. Am 9. Jänner 1905 starb sie auf ihrer Rückreise in Marseille. Auf ihrem letzten Weg auf den Pariser Friedhof Levallois-Perret wurde sie von 100.000 Menschen begleitet.
Eva Gebers biographischer Roman bietet eine gute Gelegenheit, sich mit Louise Michel, aber auch mit der Vergangenheit und der Gegenwart auseinanderzusetzen. Der Ruf, der vor 150 Jahren in Paris erschallte, klingt weiterhin nach. Denn die Aufgabe der Commune – die Befreiung von Herrschaft und der Macht des Kapitals – ist bis heute unerfüllt.
Literatur:
Eva Geber: Die Anarchistin und die Menschenfresser, bahoe books, 2019 (2. Auflage)
Eva Geber (Hg.): Louise Michel. Texte und Reden. bahoe books, 2019
Die Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch bzw. der Gruppe Anarchismusforschung entstanden.